Grenzschließung zu Großbritannien:Für Weihnachten reicht der Champagner wohl noch

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Nichts geht: Am Hafen von Dover herrschte am Dienstag Leere, weil Frankreich die Grenze nach Großbritannien geschlossen hatte. (Foto: Chris J Ratcliffe/Getty)

Am Ärmelkanal stauen sich Lkw, die britische Regierung ist wütend auf Frankreich wegen der virusbedingten Blockade. London sorgt sich um die Lebensmittelversorgung - aber nun soll der Güterverkehr wieder in Gang kommen.

Von Karoline Meta Beisel, Alexander Mühlauer, Nadia Pantel und Björn Finke, Brüssel/London/Paris

Vom Hafen in Dover sind es gut 30 Kilometer zum Manston International Airport. Dort, auf den Rollfeldern des Flughafens, stehen sie nun und warten - all jene Lastwagen, die von England nach Frankreich wollen. Wie viele es genau sind, lässt sich schwer sagen, fest steht nur: Seit Anfang der Woche wurden es immer mehr, am Dienstag war von gut tausend Lkw die Rede. Seit Sonntag, 24 Uhr, stecken sie in Großbritannien fest, nachdem Frankreich den Verkehr über den Ärmelkanal gestoppt hat. Der Grund ist die Angst vor einer neuen Mutation des Coronavirus, die im Südosten Englands aufgetaucht ist.

Am Montagabend war Boris Johnson noch voller Hoffnung, dass die Blockade am Ärmelkanal binnen Stunden gelöst werden könnte. Er habe mit Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron ein "exzellentes Gespräch" geführt und sei deshalb zuversichtlich, sagte der britische Premier bei einer Pressekonferenz. Doch so schnell, wie Johnson dachte, ging es dann doch nicht. Erst als die Europäische Kommission am Dienstagnachmittag eine EU-weite Regelung vorschlug, gab es wieder so etwas wie Zuversicht in London.

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Demnach soll vor allem der Güterverkehr von und nach Großbritannien aufrechterhalten werden. Und zwar nach demselben Prinzip, das nach den unkoordinierten Grenzschließungen auch während der ersten Corona-Welle im Frühjahr Anwendung fand. Für die Lkw-Fahrer soll keine Quarantäne angeordnet werden, auch Testpflichten soll es nur geben, wenn dadurch der Güterverkehr nicht beeinträchtigt wird.

Reisenden soll die Rückkehr nach Hause ermöglicht werden, sofern sie einen Corona-Test machen oder sich in Quarantäne begeben, und wegen des Virus unterbrochene Zug- oder Flugverbindungen wieder aufgenommen werden. Weltweit hatten etwa 40 Staaten Flugzeugen aus Großbritannien das Landerecht untersagt.

In London ist die Wut auf Frankreichs Regierung groß

Für Johnson ging es am Dienstag vor allem darum, die Lebensmittelversorgung seines Landes sicherzustellen. Gerade jetzt, vor den Weihnachtsfeiertagen, will der Premier verhindern, dass die Briten auf frisches Obst und Gemüse verzichten müssen. Glaubt man einer großen Supermarktkette im Königreich, soll zumindest die Versorgung mit Champagner gesichert sein. Ob das auch auch für Silvester gilt, wenn es bis dahin keine Entspannung geben sollte, war zunächst nicht in Erfahrung zu bringen.

So oder so ist die Wut auf die französische Regierung in London groß. Dass Macron den Verkehr über den Ärmelkanal komplett blockiert, damit hatte man in Downing Street nicht gerechnet. Im Regierungsviertel wurde, wenn auch hinter vorgehaltener Hand, darüber spekuliert, dass Macron damit Druck in den Brexit-Verhandlungen aufbauen will. In den Gesprächen über die künftigen Beziehungen geht es vor allem um einen letzten großen Streitpunkt: die Fangquoten für EU-Fischer in britischen Gewässern.

Frankreich nimmt bei den Brexit-Verhandlungen die Rolle der Unnachgiebigen auf EU-Seite ein. Dabei geht es weniger um einen wirtschaftlichen denn um einen symbolischen und politischen Konflikt. Die Regierung in Paris will vermeiden, dass das neue Jahr mit Bildern demonstrierender Fischer in der Bretagne beginnt.

Es mag Zufall gewesen sein, aber keine 24 Stunden nachdem Macron die Kanalroute blockiert hatte, kam ein Angebot aus London, das neuen Schwung in die festgefahrenen Diskussionen brachte. Demnach seien die Briten nun bereit, die Fangrechte der EU-Fischkutter über fünf Jahre hinweg nach und nach nur um 35 Prozent zu reduzieren, hieß es. Am Wochenende hatte London noch 60 Prozent gefordert. Allerdings sagte EU-Chefverhandler Michel Barnier am Dienstagabend bei Briefings von EU-Botschaftern und Europaabgeordneten, dass sich die 35 Prozent bloß auf bestimmte Arten bezögen und die Forderungen der Briten insgesamt weiterhin deutlich höher seien.

Ohnehin ist die EU bislang nur zu Kürzungen um 25 Prozent bereit. Und die EU-Botschafter gaben Barnier offenbar mit auf den Weg, dass dies das allerletzte Angebot sei. Vor allem Frankreich zeige sich hart, sagte ein Teilnehmer eines Briefings. Dabei drängt die Zeit: Gibt es bis Jahreswechsel keine Einigung auf einen Handelsvertrag, müssten am 1. Januar Zölle und Zollkontrollen eingeführt werden, denn Silvester endet die Brexit-Übergangsphase, in der Großbritannien Teil des EU-Binnenmarktes und der Zollunion ist.

Kommt der schottische Lachs für den französischen Toast?

In London hieß es zum Stand der Verhandlungen lediglich, dass die Positionen trotz Annäherungen noch immer "weit auseinander" lägen. Ähnlich wie Macron kann es sich Johnson nicht erlauben, einen Deal zu präsentieren, der die heimischen Fischer gegen ihn aufbringt. Für Johnson geht es dabei um das Kernversprechen des Brexit: die Wiedererlangung von Souveränität. Als unabhängiger Küstenstaat will das Vereinigte Königreich wieder voll und ganz die Kontrolle über seine Gewässer haben.

Auch auf der anderen Seite des Kanals dreht sich aktuell alles um Fisch. Zunächst, ganz konkret, um die Sorge, dass auch bei den Franzosen die Weihnachtsmenüs umgeplant werden müssen, wenn der Lachs aus Schottland es nicht ins Land schafft. In den Supermärkten liegt schon der Spezialtoast bereit, extra fürs Fest rund statt eckig, doch beim Belag könnte es knapp werden. Der französische Supermarktgigant Système U warnte am Dienstag vor "Engpässen am 23. und 24. Dezember bei Fisch und Meeresfrüchten".

In Calais, wo 90 Prozent des Warenverkehrs zwischen der EU und Großbritannien abgewickelt werden, stauten sich die Lastwagen schon von November an stärker als gewohnt. Das lag nicht nur am nahenden Weihnachtsgeschäft, sondern auch daran, dass britische Unternehmen kurz vor dem Brexit mit Hamsterkäufen begonnen hatten.

Nun ist der Warenverkehr nicht nur von britischer Seite zum Erliegen gekommen, sondern auch von französischer. Speditionsfirmen wollen ihre Lastwagenfahrer nicht mehr über den Kanal schicken, wenn unklar ist, wann und wie diese wieder zurückkommen können.

Die Grenzkonflikte überlässt Macron seinen Ministern

Die französische Regierung blieb am Dienstag zunächst still. Der Élysée-Palast gab keinen Kommentar zu dem Gespräch zwischen Johnson und Macron. Frankreichs Präsident hat sich mit dem Coronavirus angesteckt und befindet sich in Isolation. Am Dienstag veröffentlichte L'Express ein langes Interview mit Macron, in dem der Präsident sich darauf konzentriert, über die Identität der französischen Nation zu philosophieren. Die konkreten Grenz-Konflikte überließ Macron seinen Ministern.

Am Dienstagabend twitterte dann Frankreichs Beigeordnete Minister für Verkehr, Jean-Baptiste Djebbari, Flugzeuge, Schiffe und der von London fahrende Eurostar-Zug könnten von diesem Mittwoch an wieder verkehren. Franzosen, Menschen mit Wohnsitz in Frankreich und andere autorisierte Reisende müssten einen negativen Corona- PCR-Test haben. "Das Ziel ist, den Warenverkehr wieder anlaufen zu lassen", sagte Djebarri im Nachrichtensender BFMTV.

Clément Beaune, Staatssekretär für Europafragen, hatte am Montag in einem Interview erklärt, eine Grenzschließung von 48 Stunden, auch für Waren, sei notwendig, um "sich besser auf europäischer Ebene koordinieren zu können". Zur Frage des Brexit schrieb Beaune auf Twitter, die Regierung bereite sich "auf alle Szenarien vor, Deal oder kein Deal".

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