Covid-19:Die Politik versucht es ohne die Wissenschaft

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Jens Spahn (rechts) und RKI-Chef Lothar Wieler verlassen die Pressekonferenz zur Corona-Lage vor Ostern. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Die Infektionslage ist wieder so schlimm wie im November, doch setzt die Politik vor allem auf das Prinzip Hoffnung. Das Problem dabei: Bislang lagen Forscher mit ihren Warnungen immer richtig.

Von Henrike Roßbach, Berlin, und Christina Berndt

Am Ende einer turbulenten Woche übertreffen sich Wissenschaftler mit düsteren Prognosen zur Lage der Infektion. Der Berliner TU-Professor und Modellierer Kai Nagel hat für Mai eine 7-Tages-Inzidenz bis zu 2000 errechnet. Das wären 230 000 Neuinfektionen pro Tag, etwa 17-mal mehr als zur Zeit. Geringer fällt mit täglich 100 000 Neuinfektionen die Prognose des Chefvirologen der Charité, Christian Drosten, aus. Doch jeder dieser Werte wäre höher als alles, was Deutschland bislang gesehen hat in dieser an Infektionshöhepunkten nicht gerade armen Pandemie.

Und die Politiker? Tun erstaunlich wenig. Nach ihrem Sitzungsmarathon haben Bund und Länder am vergangenen Dienstag an die notwendige Einhaltung der längst beschlossenen Notbremse erinnert, wonach bei einer Inzidenz von mehr als 100 an drei aufeinanderfolgenden Tagen die jüngst beschlossenen Öffnungen zurückgenommen werden müssen. Hinzu kommen als neue mögliche Maßnahmen bei dieser Inzidenz die Tragepflicht von Masken durch Mitfahrer im Pkw, die Verpflichtung zu Schnelltests sowie Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen.

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Doch manche Länderchefs haben bereits angekündigt, sich daran nicht zu halten. "Ich glaube, dass es kein gangbarer Weg ist, jetzt wieder alles zurückzudrehen, was wir uns in den letzten Tagen und Wochen an Möglichkeiten und Freiheiten erkämpft haben", erklärte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD). An diesem Samstag soll der Senat entscheiden. Auch Nordrhein-Westfalen wehrt sich und plant derzeit nur Mini-Notbremsen für besonders coronageschüttelte Regionen.

Die Diskrepanz zwischen dem, was notwendig wäre, und dem, was getan wird, brachte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Freitag deutlicher auf den Punkt, als es vermutlich seine Absicht war. Er kündigte an, dass die neue Testpflicht für Urlauber vor dem Rückflug nach Deutschland vom 30. März null Uhr an gelten werde. Und dann sagte er: "Ich mache mir keine Illusionen. Diese Einreiseverordnung alleine ist jetzt nicht der Gamechanger für die Osterzeit. Dafür ist die Lage zu ernst und das Infektionsgeschehen zu stark." Wenn das ungebremst weitergehe, könne das Gesundheitssystem im April an seine Belastungsgrenze kommen.

Ob es eine neue Strategie ist? Einfach nicht hinzuschauen und zugleich zu hoffen, dass dann alles nicht so schlimm kommt? Dass die Kurven nicht weiterwachsen, wenn man sie nicht ständig anstarrt? Auf Kurven starren - das ist ja zu einem negativ gemeinten Synonym für eine wissenschaftsgesteuerte Politik geworden. Nun versucht es die Politik offenbar gerade ohne die Wissenschaft.

Das Problem ist nur: Es ist bisher immer so gekommen, wie es seriöse Wissenschaftler vorausgesagt haben. Oder noch schlimmer. "Es ist nur etwas schneller und etwas früher passiert als gedacht", sagte Michael Meyer-Hermann, Abteilungsleiter am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in dieser Woche in den "Tagesthemen".

Inzwischen befindet sich Deutschland auf der verhassten Inzidenzkurve auf derselben Höhe wie am 2. November - bei ähnlicher Steigung. Und wie damals wächst die Zahl der belegten Intensivbetten wieder - nur dass sie jetzt auf einem deutlich höheren Niveau begonnen hat, bei 3000 statt 2000 belegten Betten. Intensivmediziner befürchten bereits, bald nicht mehr genügend Betten bereitstellen zu können. "Ich hoffe, dass wir jetzt bald in ein vernünftiges Fahrwasser kommen, um das zu verhindern", sagt Clemens Wendtner, Covid-Spezialist an der München Klinik Schwabing.

Doch statt Taten scheint jetzt vor allem Hoffnung die Corona-Politik zu bestimmen. Vielleicht reicht es ja doch noch mit den Impfungen, vielleicht haben sich die Wissenschaftler mit der größeren Gefahr durch die Mutanten ja verrechnet. Spahn betonte am Freitag, dass allein im April mit mehr Impfdosen gerechnet werde, als im gesamten ersten Quartal verimpft wurden. Doch auch solche Aussichten sind derzeit, wo nichts so richtig läuft, mit einem Aber versehen: Alle internationalen Beispiele zeigten, so Spahn, je höher die Inzidenz, "desto weniger hilft das Impfen, um die Zahlen zu drücken." Aus Sicht des Präsidenten des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, bleibt daher "eine harte Maßnahme der Kontaktreduktion" die einzige Möglichkeit, die dritte Welle zu brechen. "Wenn nicht gegengesteuert wird, werden die Folgen gravierend sein", so Wieler.

Neben den Appellen an die Bürger - Treffen zu Ostern nur im Freien oder drinnen mit Maske, nicht reisen, wenig Kontakte - hatte Spahn auch drei Forderungen an die Länder dabei. Erstens sollten sie alle Menschen, die zur zweiten Prioritätsgruppe gehörten, in die Impfkampagne einbeziehen. Die Gruppe sei groß genug, und die Impfverordnung lasse es zu, etwa am Wochenende mit übrig gebliebenen Dosen alle über 70-Jährigen zu impfen. Zweitens müsse die Lagerhaltung für die zweite Impfung verringert werden. Und drittens, das klang wie eine Beschwörung, müsse die Notbremse "konsequent" umgesetzt werden, das habe man schließlich "gemeinsam und einstimmig" beschlossen.

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