Corona in Frankreich:70 Intensivbetten für 78 Patienten

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Corona Patient in einem marseiller Krankenhaus. (Foto: Eric Gaillard/Reuters)

Marseille ist mutmaßlich durch Partytouristen zum Corona-Hotspot Frankreichs geworden. Von der Regierung in Paris fühlt sich die Hafenstadt allein gelassen.

Von Nadia Pantel, Marseille

In Frankreich scheint sich im Umgang mit Covid-19 eine Faustregel durchgesetzt zu haben, die besagt: Alles ist in Ordnung, sobald man sitzt. Nirgendwo im Land sind die Zahlen in den vergangenen Wochen so rasant gestiegen wie in Marseille. Man spürt die Anspannung, wenn man die Canebière entlangläuft, die Hauptstraße, die vom alten Hafen Richtung Bahnhof führt. Jeder trägt Maske, am Eingang der Geschäfte werden die Hände desinfiziert. Die berühmten gestes barrières, die Hygieneregeln, die helfen sollen, die Verbreitung des Virus einzudämmen.

Doch zum Mittagessen oder Kaffeetrinken haben die Regeln Pause. Platz nehmen, dicht an dicht, kaum ein Kellner zieht die Maske über die Nase. Auch die Dämmerung markiert einen Wendepunkt. Der Alkohol kommt dann nicht mehr als Gel auf die Hände, sondern als Rosé oder Bier ins Glas. Der Einzelne steht vor derselben Herausforderung wie die Stadtverwaltung, wie die Regierung: Was ist noch Vorsicht, was ist schon Panik? Wann wird aus dem Aufrechterhalten der alten Normalität Fahrlässigkeit?

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Der Mediziner weist darauf hin, dass trotz steigender Neuinfektionen die Todeszahlen kaum zunehmen würden. Kanzlerin Merkel verteidigt die staatlichen Corona-Beschränkungen, betont aber zugleich, dass Debatten darüber möglich seien.

Zu Beginn der Pandemie hatte es in Frankreich gewirkt, als sei Corona ein Problem des Nordens. Aus der Region Grand Est, an der Grenze zu Deutschland und Luxemburg, und aus Paris mussten Patienten unter großem Aufwand verlegt werden, weil die Krankenhäuser überlastet waren. In Marseille hingegen mahnte der Virusforscher Didier Raoult zu Gelassenheit. Tatsächlich zählte die Hafenstadt weniger schwere Krankheitsverläufe als im Landesdurchschnitt.

Raoults wissenschaftlich nicht belegte Behauptung, Covid-19 lasse sich mit Hydroxychloroquin heilen, machte den Mediziner in den sozialen Medien zum Star. US-Präsident Donald Trump begann, präventiv Hydroxychloroquin zu nehmen. Es könne sein, dass Corona von April an kein Thema mehr sei, hatte Raoult im Winter gesagt. Doch nun endet der Sommer ausgerechnet in Marseille bedrohlich. Auf den Intensivstationen des Départements Bouches-du-Rhône, zu dem Marseille gehört, sind eigentlich 70 Betten für Covid-19-Patienten reserviert. Zu Beginn der Woche waren 67 der Betten belegt, am Mittwoch gab es schon 78 Patienten.

Viele Franzosen blieben für ihren Badeurlaub in diesem Jahr im eigenen Land

Lionel Velly, Leiter der Intensivstation des Marseiller Krankenhauses La Timone, sagte dem Fernsehsender France 3, die Lage habe sich in den vergangenen zehn Tagen deutlich angespannt. "Wir haben innerhalb von 24 Stunden sechs neue Covid-Patienten aufgenommen, das ist seit Monaten nicht mehr passiert", sagte Velly. Ein Drittel der Covid-Patienten sei jünger als 65, "der Jüngste ist 50", so Velly.

Der Anstieg der Covid-19-Infektionen folgt in Marseille auf einen Sommer, in dem besonders viele Touristen die Stadt besuchten. Im Vergleich zum Vorjahr war die Zahl der Urlauber um ein Drittel gestiegen. Von Paris aus ist Marseille innerhalb von drei Stunden mit dem Zug zu erreichen, viele Franzosen blieben für ihren Badeurlaub in diesem Jahr im eigenen Land. Für Emmanuel Barbe, den Präfekt des Départements Bouches-du-Rhône, liegt der Grund der starken Zirkulation des Virus in "den vielen Feiern, durch die sich Cluster gebildet haben".

"Ich kann langsam nicht mehr", stellt Arlette fest. Sie arbeitet als Putzfrau in einem Hotel an der Küste und will ihren vollen Namen nicht sagen, weil sie nicht will, dass ihr Arbeitgeber ihn in der Zeitung liest. "Die Leute kommen zum Party machen nach Marseille und passen überhaupt nicht auf", sagt Arlette. "Und wenn ich morgens mit dem Bus zur Arbeit fahre, dann ist es so eng, dass ich die Abstandsregeln nicht einhalten kann." Gleichzeitig macht sie sich Sorgen, was es für ihren Arbeitsplatz bedeutet, wenn die Menschen vorsichtiger werden und lieber nicht mehr nach Marseille kommen. Nach den überfüllten Sommerwochen ist das Hotel nun für Anfang September ungewöhnlich leer.

Der Lockdown im Frühjahr traf die Stadt mit den ärmsten Vierteln des Landes besonders hart

Der Kampf gegen das Virus ist inzwischen auch zu einem Konflikt zwischen der Regierung in Paris und der Bürgermeisterin von Marseille geworden. Die Grüne Michèle Rubirola, seit Juni im Amt, warf bei einer Pressekonferenz Ende August der Regierung vor, Vorgaben zu machen, "ohne diese vorher mit uns abzustimmen und ohne die nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen, die wir bräuchten, um diese Vorgaben umzusetzen". Zum Streit führte unter anderem, dass in Marseille Bars und Restaurants um 23 Uhr schließen sollten, in Paris jedoch nicht, obwohl auch dort die Zahl der Covid-Infizierten rasant steigt. Inzwischen hat die Präfektur eingelenkt: bis eine halbe Stunde nach Mitternacht wird ausgeschenkt.

Am Freitag will der Gesundheitsminister Olivier Véran in Paris darüber entscheiden, ob weitere Beschränkungen für Marseille gelten sollen. Bürgermeisterin Rubirola sagte bereits Ende August, dass ein erneuter Lockdown "nicht vorstellbar" sei. In Marseille befinden sich die ärmsten Stadtviertel des Landes. Während der strengen achtwöchigen Ausgangssperre im Frühjahr meldete die Hilfsorganisation Secours Populaire, dass sich in Marseille "täglich 20 neue Familie registrieren" ließen, die auf Essensspenden angewiesen waren. Durch die Schließung der Schulen konnten Kinder nicht länger in der Kantine essen.

© SZ vom 10.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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