Tour de France:"Wie ein kleiner Tod"

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"Wie ein kleiner Tod, den wir akzeptieren müssen": Eine Radfahrerin mit Mundschutz vor dem Tour-Logo in Nizza. (Foto: Christophe Ena/dpa)

Die Franzosen pflegen ein besonderes Verhältnis zur Tour de France - doch diesmal radelt die Rundfahrt Corona-bedingt ins Nichts. Grundsätzliche Kritik wird laut.

Von Nadia Pantel, Paris

Es ist schwer möglich, in Frankreich aufzuwachsen, ohne dass später die Tour de France durch die Kindheitserinnerungen geistert. Meinten die Eltern es wirklich ernst mit ihrer Begeisterung für den Radsport, reiste man zu einer Etappe, stand am Straßenrand, wartete auf die Fahrer und ließ sich vorher von den Autos der Sponsoren aus mit eingeschweißter Salami, Plastikspielzeug und Süßigkeiten bewerfen. Ein bisschen wie Straßenkarneval, nur deutlich weniger alkoholisiert und mit kaum Auswahl bei den Kostümen (grünes, gelbes oder rotgepunktetes Trikot).

Selbst wenn man sie nur am Fernseher betrachtete, war die Tour ein Erlebnis. Draußen war Hochsommer, drinnen konnte man sich ungestört aufs Sofa setzen und Pause vom Schwitzen machen, fürs Tourschauen haben selbst die strengsten Eltern Verständnis. Sie sehen dann im fernsehenden Kind sich selbst, ein paar Jahrzehnte früher, auf einem altmodischeren Sofa. Wenn man Pech hat, sagen die Väter dann Dinge wie: "Früher sind die Fahrer die Nächte durchgefahren." Oder: "Früher mussten sich die Fahrer ihre eigenen Ersatzreifen um den Körper schnallen." Damit das Kind ja nicht vergisst, dass es im Zeitalter der Luschen aufwächst. Aber sonst ist alles schön.

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Doch 2020 verstrich der Juli ohne Bergetappe, ohne Luftaufnahmen der schönsten französischen Regionen, die einen je nach persönlicher Neigung ohnehin mehr interessieren als die gekrümmten Rücken der Radkämpfer, und ohne dass irgendein kleiner Nachbarsjunge Buch führte über Zeiten, Erfolge und Unfälle. Acht Wochen dauern die französischen Sommerferien, der innere Rhythmus hat sich darauf eingestellt, dass sie ungefähr mit der Tour beginnen und nach dem Ende der Tour noch lange nicht vorbei sind.

"Das Ritual, das uns mit den anderen verbindet"

In diesem Sommer geschieht nun etwas, das sich ähnlich deplatziert anfühlt wie eine Weihnachtsfeier im Februar: Die Tour de France beginnt gleichzeitig mit dem Schulstart. Man ahnte es schon, nun kann man es schriftlich im Terminkalender nachprüfen: Es ist der Radsport-Industrie ziemlich egal, ob Millionen Enkelkinder zur Beschäftigung von ihren Großeltern vor die Tour-Übertragung gesetzt werden. Die Waden sind trainiert, die Werbeverträge unterschrieben, die Etappen abgesteckt, die Tour kommt. Nur radelt sie in diesem Jahr ein wenig ins Nichts.

Nun fällt die Tour zwar nicht aus, sie ist nur verschoben. Und die Frage ist natürlich erlaubt: Ist das in diesem Coronajahr, wo doch fast alles abgesagt wird, überhaupt eine Beschwerde wert? Für den Wettkampf mag der spätere Start egal sein, für das große Ferienritual aber nicht. Philippe Delerm, dessen Bücher in Frankreich zuverlässig Besteller werden, schrieb Anfang August einen Text für den Figaro, der sich las wie ein Nachruf. "Ihr Fehlen ist wie ein kleiner Tod, den wir akzeptieren müssen", schrieb Delerm - er meinte die Tour. "Was uns fehlen wird", so Delerm weiter, "das ist das Ritual, die Gewohnheit, das, was uns mit den anderen verbindet."

Es klingt, als wäre der Rundkurs der Radfahrer, la Grande Boucle, nicht nur eine Tour entlang der Grenzen des Landes, sondern ein Ring, der zusammenhält, was auseinanderzufallen droht. Als wären nun den ganzen Sommer über die Fernseher verstaubt, weil die Menschen ohne das Tourprogramm eine so tiefe Depression befallen hat, dass selbst für das Drücken des An-Knopfes die Energie fehlte.

Schiebt man jedoch die verwaschenen Erinnerungen beiseite, die der anderen und die eigenen, dann ist das Coronavirus nicht die einzige Hürde, der sich die Tour de France in diesem Jahr stellen musste. Tatsächlich schrieb das Wall Street Journal schon 2017: "Desinfektionsgel - das meist benutzte Produkt der Tour de France". Die Angst vor Viren und Bakterien ist bei diesem Langstreckenrennen, bei dem man sich keinen Ausfall wegen Krankheit leisten kann, traditionell groß. Entsprechend eingeübt sind viele Vorsichtsmaßnahmen.

Doch es gibt auch andere Tourgegner, gegen die kein Händewaschen hilft. Ein "in die Jahre gekommenes Sportereignis, das seine großen Momente hatte, doch dem es nicht gelingt, sich neu zu erfinden" - so beschreibt kein ewig spöttelnder Kabarettist die Tour de France, sondern die grüne Lokalpolitikerin Valérie Faucheux aus Rennes. Die Hauptstadt der Bretagne wird von Grünen und Sozialisten gemeinsam regiert und wird 2021 darauf verzichten, die Stadt zu sein, in der die Tour de France startet. Trotz eines entsprechenden Angebots des Tour-Veranstalters.

Offiziell kann Rennes die Tour wegen Terminschwierigkeiten nicht beherbergen. Doch die grünen Gemeinderäte machten kein Geheimnis daraus, dass sie die Tour in erster Linie für eine Müllschleuder halten. Natürlich haben sie nichts gegen Radfahren, betonen Grüne wie Faucheux, doch die Tour bestehe zu großen Teilen aus einer Werbekarawane, die tonnenweise Made-in-China-Plastik zu den Fans schleudert - und aus Autos und Motorrädern, die die wenigen Radfahrer umzingeln.

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Auch die Sozialisten zeigten sich wenig verzaubert vom Tour-Spektakel. Der stellvertretende Bürgermeister Marc Hervé reagierte in einem langen Facebook-Post auf die Vorwürfe, das Rathaus wolle den Bürgern den Radsport vermiesen. Die Tour sei "Teil des kulturellen Erbes Frankreichs und niemand kann das Gegenteil behaupten", schrieb Marc Hervé im August, um dann allerdings recht ausführlich zu erklären, warum er die Tour dennoch nicht aus vollem Herzen in seiner Stadt willkommen heißen mag.

700 000 Euro müsse die Stadt aus ihrem eigenen Budget stemmen, um den Zuschlag für den Tourauftakt zu bekommen. Eine Summe, "die im aktuellen Kontext nach sich ziehen würde, dass wir an anderer Stelle das Budget kürzen müssen". Denn in Zeiten der Pandemie sind Städte wie Rennes nicht nur von hohen Infektionszahlen bedroht, sondern auch von Massenarbeitslosigkeit und davon, dass die öffentlichen Gelder knapp werden. "Wir müssen die kommende soziale Krise bedenken", schreibt Hervé: "Wir haben uns daher gemeinsam dafür entschieden, auf Vorsicht und Vernunft zu setzen."

Die teure Tour mit ihrem Tross wirkt von Rennes aus betrachtet also eher wie eine Luxusunternehmung denn wie ein Volksfest, das alle zusammenbringt. Immerhin ein Konflikt wurde in diesem Jahr entschärft. Die Etappensieger kriegen nicht länger Belohnungsküsse von Hostessen in engen Kleidchen. Ersteres verbieten die Hygieneregeln, letzteres regt Feministinnen seit Jahrzehnten auf. Von 2020 an werden die Sieger nicht mehr von Frauen eingerahmt, sondern von einem Mann und einer Frau. Wie eng die Kleidung des Mannes dabei ausfällt, wird sich von Samstag an zeigen.

© SZ vom 28.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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