Der Deutsche Ethikrat hat sich für eine Corona-Impfpflicht ausgesprochen. Diese werde "als aktuell geeignet und in Ermangelung milderer, gleich wirksamer Alternativen als erforderlich verstanden", schreibt der Rat in einer Ad-hoc-Empfehlung, die er an diesem Mittwoch veröffentlichte. 20 der 24 Ratsmitglieder stimmten der Empfehlung zu, vier dagegen. Die Stellungnahme markiert eine Wende in den Empfehlungen des Gremiums, das die Bundesregierung berät. Bislang hatte der Rat eine allgemeine Impfpflicht stets abgelehnt.
Über das Ausmaß einer möglichen Pflicht gibt es in dem Gremium indes auch jetzt keine Einigkeit: Einige Mitglieder befürworten eine allgemeine Regelung für alle Volljährigen, andere halten es für angemessener, die Impfpflicht nur für diejenigen einzuführen, die besonders gefährdet sind, schwer an Covid-19 zu erkranken.
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Einhellig betont der Ethikrat, eine Impfpflicht für "wesentliche Teile der Bevölkerung" müsse mit weiteren Maßnahmen ergänzt werden. Voraussetzung sei eine flächendeckende Abdeckung mit niedrigschwelligen Impfangeboten. Man solle alle Verpflichteten mit Terminangebot direkt zur Impfung einladen, nach Möglichkeit sollten die Menschen das Vakzin frei wählen dürfen. Außerdem empfiehlt der Ethikrat, dass Deutschland ein nationales Impfregister einführt, um Umsetzung und Kontrolle zu erleichtern.
Für Bundeskanzler Olaf Scholz ist die Empfehlung des Rates eine wichtige Unterstützung. Er hatte sich Ende November dafür ausgesprochen, alle Erwachsenen zum Impfen zu verpflichten. Der Bundestag soll darüber nach Scholz' Vorstellung ohne Fraktionszwang abstimmen. Er rechne damit, dass eine Impfpflicht von Ende Februar oder Anfang März an gelten könnte.
Note Mangelhaft für Impfen
Lob für seine oder die Vorgängerregierung sucht Scholz in dem Text dagegen vergebens. Der Rat vergibt für die ganze Impfstrategie die Note Mangelhaft: Von der Logistik über die Ansprache, von aufsuchendem Impfen bis hin zu schnellen, lösungsorientierten Anpassungen sei diese "deutlich hinter dem Möglichen zurückgeblieben". Wären diese Probleme gelöst worden, hätte sich bereits eine deutlich höhere Impfquote erreichen lassen, kritisiert der Rat.
Die Impfpflicht sei nun ein erheblicher Grundrechtseingriff, allerdings auch "ein unverzichtbares Mittel", um künftige Wellen der Corona-Pandemie für das Gesundheitssystem kontrollierbar zu halten. Sieben Ratsmitglieder meinten, dabei gebiete es die Verhältnismäßigkeit, die Pflicht auf die besonders Verwundbaren wie Alte und Vorerkrankte zu beschränken. Für sie habe die Impfung schließlich einen besonders hohen persönlichen Nutzen; zudem könne man allein damit wohl schon einer Überlastung des Gesundheitssystems vorbeugen, um wiederum Freiheitsbeschränkungen für alle zu vermeiden.
Dreizehn andere Ratsmitglieder schrieben jedoch, eine solche Risikopatienten-Impfpflicht reiche nicht aus, und bei welchen Risikofaktoren ziehe man denn die Grenze? Es sei unumgänglich, auch Jüngere und Gesunde zum Impfen zu verpflichten.
So oder so ist die Empfehlung ein Sinneswandel: "Impfungen setzen prinzipiell eine aufgeklärte, freiwillige Zustimmung voraus. Eine undifferenzierte, allgemeine Impfpflicht ist deshalb auszuschließen", schrieb der Ethikrat 2020. Erst im Februar hatte er diese Sicht erneut bestätigt. Eine Impfpflicht hielt er damals noch weder für notwendig noch für ethisch vertretbar. Daran werde sich auch absehbar nichts ändern, sagte die Ethikratsvorsitzende Alena Buyx kurz darauf im Gespräch mit der SZ.
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Nun verweist der Rat auf die "veränderte Faktenlage": Zwar weiß man jetzt, dass die Impfstoffe eine Übertragung des Virus tatsächlich nicht komplett verhindern, aber bei sehr hohen Inzidenzen wie im Moment immerhin massenhaft schwere Krankheitsverläufe. Der Ethikrat schreibt zudem, die Impfquote müsse nun viel höher sein als etwa noch im Frühjahr angenommen, weil die Delta- und die Omikron-Variante so infektiös seien. Anders als anfangs geglaubt seien 70 Prozent jedenfalls nicht genug, um das Virus einzudämmen.
Die Kehrtwende gesteht der Rat offen ein. "Es liegt im Wesen wissenschaftlichen Vorgehens, Positionen angesichts neuer Erkenntnisse weiterzuentwickeln und falls notwendig zu revidieren", erklärt dazu Ratsmitglied Wolfram Henn. Je schärfer aber die Richtungsänderung sei, desto besser müsse sie begründet werden. Neben den immer infektiöser werdenden Virusvarianten habe ihn auch der ungeahnt große Teil der Bevölkerung, der mit auch noch so tragfähigen wissenschaftlichen Argumenten nicht mehr erreichbar ist, zu einem Umdenken bewogen. In einer Impfpflicht sieht Humanmediziner und Medizinethiker Henn indes auch eine Chance für die gespaltene Gesellschaft. "Klare Regeln, die einheitlich für alle gelten, können auch eine befriedende Wirkung haben", sagt er.