Der Regisseur und frühere Messdiener Christoph Schlingensief, 49, setzt sich als Künstler immer wieder mit Kirche und Glauben auseinander. Zuletzt geriet dabei auch seine schwere Krebserkrankung ins Zentrum - etwa in dem Bühnenwerk "Kirche der Angst". Derzeit probt Schlingensief mit afrikanischen Künstlern in Berlin und widmet sich seinem Operndorf-Projekt in Burkina Faso.
SZ: Herr Schlingensief, kurzzeitig hatten die Organisatoren des Münchner Kirchentags fest mit Ihrem Erscheinen gerechnet. Sie sind bekennender Katholik und wären somit ein Schmuckstück für jede christliche Zusammenkunft.
Schlingensief: Es gab Terminprobleme, deshalb musste ich absagen. Außerdem bin ich derzeit ziemlich schwach auf den Beinen. Wegen der Proben zu meinem neuen Theaterprojekt. Auch wegen der Operndorf-Bauarbeiten in Burkina Faso. Und natürlich wegen meiner Erkrankung. Seit einigen Monaten weiß ich, dass ich neue Metastasen habe. Kürzlich telefonierte ich mit meiner Mutter. Sie kränkelt auch ein bisschen. Ich erzählte ihr, dass ich diese Anfrage vom Kirchentag habe. Da sagte sie: "Ich bitte dich, Christoph, lass das sein. Du weißt, du sollst dich da nicht einmischen." Ich antwortete: "Mama, ich bin ein erwachsener Mann. Und wir leben in zwei Welten."
SZ: In zwei Welten? Was meinen Sie damit?
Schlingensief: Im Gegensatz zu meiner Mutter überlege ich mir, ob es nicht ganz gut wäre, eine kleine Auszeit von der Kirche zu nehmen. Geistiger Abstand, räumliche Distanz. Also das, was man Bischof Mixa empfohlen hat. Es gibt großartige Pfarrer und Gemeindemitarbeiter. Aber meiner Meinung nach sollte man die Abteilung in der Kirche, die durch Geheimnistuerei ihre Macht ausbauen will, ruhig mal in die Schranken weisen. Trotzdem fällt mir ein Austritt schwer.
SZ: Warum ist das so schwer?
Schlingensief: Ich schätze vor allem den Raum. Die Stille in der Kirche hat eine ganz besondere Kraft, die ich sonst nirgendwo finde. Und, klar, ich habe auch tolle Bekanntschaften dort geschlossen. Zum Beispiel mit Schwester Leonarda oder Monsignore Pater Geulen.
SZ: Waren Ihr Vater und Ihre Mutter sehr gläubig?
Schlingensief: Nicht so extrem wie mein Patenonkel. Der war Oberstleutnant, sein Bruder ist als Priester in Stalingrad gefallen. Sobald ich mich mit der katholischen Kirche künstlerisch auseinandersetzte, klingelte bei meinen Eltern das Telefon und mein Patenonkel schimpfte: "Da muss man doch eingreifen! So wird das doch nix mit dem Jungen!" Meine Eltern waren offener, liberaler. Aber wenn der Papst im Fernsehen auftauchte, so knieten auch wir alle im Wohnzimmer.
SZ: Welche Rolle spielt das, was man Ihnen damals über die Transzendenz erzählt hat, heute noch in Ihrem Leben?
Schlingensief: Interessant ist, dass ich - genauso wie meine Mutter damals - heute noch oft überlege, ob mein Tun auch im Sinne der Kirche ist oder nicht. Ein Beispiel: Als ich im vergangenen November plötzlich frei von Metastasen war, inszenierte ich in Zürich und trat in der Inszenierung auch als verrückter Papst auf. Ich brüllte: "Ich habe frohe Botschaft zu verkünden! Die Heilung hat eingesetzt, ich kann euch nicht helfen." Jetzt habe ich wieder Metastasen und sehe darin zwar keine Strafe für diese Rolle, habe aber doch das Gefühl, dass ich mich als Mensch von mir selber entfernt und mich nicht um die notwendige Demut und Ruhe gekümmert habe.
SZ: Eine Art katholisches Ursache-Wirkung-Denken?
Schlingensief: Bei Moslems ist das noch schlimmer. Oder bei Protestanten.
SZ: Sie haben selber keine Kinder. Aber wenn Sie welche hätten, welches Gottesbild würden Sie ihnen vermitteln?
Schlingensief: Meine Frau und ich hätten sehr gerne Kinder. Wir haben da eine große Sehnsucht. Aber es geht halt nicht. Meine Frau ist der Meinung, Kinder sollten früh über alles Religiöse informiert werden und sich später selbst entscheiden. Sie ist in diesen Dingen viel besonnener als ich. Als ich im Krankenhaus mit großen Schmerzen und angeschlossen an medizinische Geräte lag, wollte ich mit ihr über die großen und wichtigen Dinge des Lebens reden. Jetzt, schnell, sofort. Da sagte sie zu mir, für sie sei im Moment ein ganz normaler Apfel groß und wichtig. Dann ging sie raus, wahrscheinlich um einen Apfel zu schälen. Ich ärgerte mich furchtbar und wäre am liebsten die Wände hochgerannt. Als sie wieder zurückkam, hatte ich mich wieder beruhigt und es kam tatsächlich zu einem unglaublich schönen Gespräch über das Leben, Gott und den Tod. Ganz in Ruhe.
SZ: Auch vieles, was in der Kirche geschieht, ist zum Wändehochlaufen.
Schlingensief: Und ob. Als Christ verstehe ich mich aber als jemand, der etwas dagegen tut. Das darf keine faule Veranstaltung sein. Meine Mutter schwärmte mal am Telefon: "Hast du schon von unserem neuen Bischof gehört? Der Overbeck ist noch jünger als du. Was für eine Karriere!" Vor wenigen Tagen sah ich den Overbeck dann im Fernsehen, als er sagte: "Homosexualität ist eine Sünde." Da rief ich bei meiner Mutter an und sagte: "Tut mir leid, Mama. Aber das halte ich einfach nicht aus." Ich habe mir echt überlegt, auch den Overbeck sofort anzurufen und zu sagen: "Bitte hören Sie damit auf! So holen Sie doch wieder nur dummdreiste Konservative in die Kirche. Wenn das so weitergeht, brauche ich wirklich mal Erholung von euch." Das Leben bietet doch so viel Gegensätzliches, Widersprüchliches, Absurdes, so viel Irrwitz und Wahnsinn. Da kann man doch nicht so tun, als gäbe es nur eine Wahrheit.
SZ: Aber genau um diese eine Wahrheit geht es der katholischen Kirche ja.
Schlingensief: Es kommt immer auf die Vermittlung an. Ein Beispiel: Mein Vater nahm mich gerne auf Studienreisen mit, zum Beispiel 1974 nach Sorrent. Dort habe ich während eines Gottesdienstes Kirche mal ganz anders kennengelernt: Messdiener kletterten ein Kreuz hinauf, machten furchtbaren Blödsinn, immer wieder kam der Küster aus der Sakristei gerannt, packte die Kinder am Kragen, knallte ihnen eine, warf sie zu Boden. Der Pfarrer ließ sich davon ebenso wenig beeindrucken wie die singenden alten Frauen. Diese Form der Vermittlung hat mich ungeheuer beeindruckt.
SZ: Und wie war das bei Ihnen? Als Ministrant in Oberhausen? Sind Sie da auch Kreuze hochgeklettert?
Schlingensief: Ich sage nur: Frühmesse mit Monsignore Pater Geulen morgens um sechs. In der Kirche: 20 alte Frauen und meine Mutter. Bei dieser Messe habe ich alles falsch gemacht. Ich hab total den Überblick verloren, weil der Monsignore immer nur Latein geredet hat. Nach dem Schlusssegen bin ich dann sofort hinausgerast, weil alles so furchtbar war. Der Monsignore kam hinter mir her, ich hörte nur wallende Tücher schlagen. Er packte mich im Nacken und zerrte mich zurück an den Altar. Ich hatte nämlich meine Kniebeuge vergessen. Später in der Sakristei brach ich neben ihm in Tränen aus. Da sagte der Monsignore: "Hör auf zu heulen. Egal, was du in deinem Leben für Fehler machen wirst. Der Papst bleibt bei seinem Glauben." Das war seine Art der Wahrheit. Hat mich auch beeindruckt. Sympathischer allerdings fand ich Kaplan Gruhn, bei dem ich als Siebenjähriger während der Messdienerstunden auf dem Schoß sitzen durfte. Der Kaplan kraulte mir den Nacken, war zärtlich und freundlich und erzählte wunderbare Geschichten. Das war toll und hatte überhaupt nichts Anstößiges.
SZ: Heutzutage könnte Ihr Kaplan Probleme bekommen.
Schlingensief: Dabei sind doch diejenigen am schlimmsten, die immer nur langweilige, weichgespülte Predigten halten! Immer nur Harmonie, das hält doch keiner aus. Auch ein Pfarrer nicht. So ungefähr: "Wieso lächelst du mich die ganze Zeit immer nur an, verdammt nochmal? Haste nicht kapiert, dass die Hölle auf dich wartet?" Bei den Fürbitten habe ich mir immer einen gewünscht, der zum Beispiel sagt: "Herr, hilf, dass ich nicht schon wieder den Müll runtertragen muss." Wahrscheinlich hätte die Gemeinde ganz automatisch geantwortet: "Wir bitten dich, erhöre uns." Dann wäre ich, der Messdiener Schlingensief, aufgesprungen und hätte geschrien: "Ist denn hier niemand, der mitdenkt? Hat niemand zugehört, was für ein Blödsinn hier gebetet wird?"
SZ: Möchten Sie eigentlich katholisch beerdigt werden?
Schlingensief: Diese Krankheitsphasen, die mir der Krebs beschert, die sind schon merkwürdig. Einerseits kann es mir doch wirklich egal sein, was mit mir passiert, wenn ich tot bin. Andererseits möchte ich - auch um meine Frau zu schützen - auf gar keinen Fall, dass mir eine bestimmte Person einen Kranz aufs Grab legt. Zumindest die Schleife müsste dann jemand unbedingt abschneiden.
SZ: Gerade am offenen Grab wird furchtbar viel geheuchelt.
Schlingensief: Widerlich! Zudem frage ich mich, ob es für mich unbedingt ein Grab auf einem kirchlichen Friedhof sein muss. Ich glaube ja fest daran, dass der Geist den Körper verlässt. Doch: Lebt er wirklich individuell weiter? Taucht er nicht eher in eine riesige Energiewolke ein? Werden wir tatsächlich nach dem Tod Vater und Mutter wiedersehen? Das zu glauben, fällt mir schwer. Andererseits meine ich, meinen Vater schon als Vogel wiedergesehen zu haben. Als die Metastasen wiederkamen, glaubte ich, mit meinen Großeltern zu sprechen.
SZ: Vor so einer Krankheit gibt es kein Entrinnen. Auch, was die letzten Fragen angeht. Was hat sich dadurch für Sie verändert?
Schlingensief: Durch den Krebs ist alles in den Boden gerissen worden. Früher dachte ich immer: "Gott liebt mich. Der mag mich als Mensch und als Künstler. Egal, was ich so tue." Nun frage ich mich, auf das Leben zurückblickend: "Was hast du denn da eigentlich geglaubt, Alter? Das war doch alles nur ein einziger Märchenpark! Das ist doch nicht der wirkliche Gott." Mir helfen da sehr die Schriften des mittelalterlichen Theologen Meister Eckhart, wie sie mir ein befreundeter christlicher Philosoph empfohlen hat. Dieser Philosoph schenkt mir, wenn er mich besucht, auch immer eine ordentliche Ladung Realismus ein. Zum Beispiel, dass es falsch ist, "gütiger Gott" zu sagen. Denn dieser Gott ist nicht nur gütig.
SZ: Und der Mensch selbst ist nur Staub?
Schlingensief: Eine Woche bevor ich von meiner Krebserkrankung erfuhr, war ich in Kathmandu und sah die Scheiterhaufen, wo die Toten verbrannt werden. Die Reichen können sich Holz leisten, bei den Armen wird der Verbrennungsprozess mit einem speziellen Öl beschleunigt. Und es gibt auch ein Hospiz, in dem man allerdings innerhalb von drei Tagen sterben muss, sonst muss man wieder nach Hause gehen. Es gibt auch Geburtszimmer in diesem Hospiz. Die Asche der Toten wird nach der Verbrennung in einen Fluss geworfen, an dessen Ufer Kinder stehen, die mit Rechen und Ästen versuchen, einen Ring oder eine Kette des Verstorbenen zu ergattern. Das könnte ich für mich komplett akzeptieren. Das ist theatralisch, traurig aber auch funktional. Im Moment möchte ich jedoch vor allem eines: leben.