Massenproteste:In Hongkong geht es nicht nur um ein Gesetz, sondern um alles

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Die Massenproteste haben den Abschluss des Auslieferungsabkommens verhindert. Aber damit ist die Episode nicht beendet. China kann auf Dauer mit der Oase der Freiheit nicht leben.

Kommentar von Lea Deuber

Mit Massenprotesten hat die Bevölkerung in Hongkong den Abschluss eines Auslieferungsabkommens mit China verhindert. Aber damit ist die Episode nicht beendet. Neue Demonstrationen sind geplant. Für die chinesische Führung sind die Bilder aus der Sonderverwaltungszone eine Blamage. Millionen Menschen gehen auf die Straße, ohne dass Peking etwas dagegen tun kann. Für den vermeintlich allmächtigen Präsidenten Xi Jinping ist das ein Gesichtsverlust.

Dabei hat die Führung in Peking die Krise geschickt gesteuert. Ihrer Deutung zufolge trat die Zentralregierung als Schlichter auf, während die Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam im Alleingang das Gesetz habe durchdrücken wollen. Kühle Köpfe in Peking und eine irrationale Politikerin in der Stadt? Das ist natürlich Unsinn. Lam handelt nicht ohne Anweisung aus Peking. Es war die KP höchstselbst, die unterschätzt hat, wie angespannt die Lage in der Stadt inzwischen ist.

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In den Tagen zuvor hatten bis zu einer Million Hongkonger gegen das Vorhaben der Regierung demonstriert. Trotz der Ankündigung wollen die Aktivisten am Sonntag erneut auf die Straße gehen.

Die Krise erwischt China in einem ungünstigen Moment. Die Regierung kämpft mit einer schwächelnden Wirtschaft. Der Handelsstreit mit den USA lastet schwer. Wäre die Lage in Hongkong eskaliert, hätte auch Peking Sanktionen fürchten müssen. Washington hätte die Proteste nutzen können, um den Druck zu erhöhen. Auch deshalb hat die Regierung so schnell eingelenkt.

Man darf sich keine Illusionen machen: Die Zentralregierung wird die neu erstarkte zivilgesellschaftliche Bewegung in Hongkong niemals tolerieren. Demokratie, Pressefreiheit und die Menschenrechte sind Grundwerte in Hongkong. Präsident Xi Jinping hat ihnen bei seinem Amtsantritt den Kampf angesagt. Die KP will der Welt glauben machen, dass es einen chinesischen Sonderweg gibt, dass Demokratie ein rein westlicher Wert ist und der Einparteienstaat der einzige Weg für die Volksrepublik. Die zwei Millionen friedlich demonstrierenden Hongkonger stellen diese Erzählung in Frage.

Der Kontrast zwischen der freiheitlichen und demokratischen Enklave und dem autokratisch regierten Festlandchina ist gefährlich für das Regime. Deshalb muss Peking den Geist Hongkongs langfristig zerstören.

Die Demonstranten haben sich möglicherweise etwas Zeit erkämpft. Wahrscheinlicher aber ist, dass Peking das Hongkonger Rechtssystem nun noch schneller ausbluten lässt. Peking spricht bereits von ausländischen Mächten hinter den Protesten, Demonstranten werden zu Aufständischen erklärt. Damit drohen ihnen bis zu zehn Jahre Haft.

Um den Widerstand der Stadt zu brechen, wird Peking keine Panzer schicken. Noch führt der Staat seine Kriege im Verborgenen. China lässt Medien vom pro-chinesischen Lager übernehmen, hindert Journalisten an ihrer Arbeit und bedroht Aktivisten. Politiker des pro-demokratischen Lagers haben ihre Sitze im Parlament verloren und sind zu Haftstrafen verurteilt worden. Immer weniger Menschen fühlen sich sicher in der Stadt, die einst für ihre Freiheit bekannt war. Systematisch verschiebt Peking mit seiner Politik die Grenze des Denk- und Machbaren.

Demonstranten protestieren auf einer Straße vor dem Hauptsitz der Hongkonger Polizei. (Foto: Reuters)

Hongkong ist keine Ausnahme. Vor fünf Jahren hat die Regenschirm-Bewegung für das Recht gekämpft, ihren eigenen Regierungschef wählen zu dürfen. Es ging um mehr Freiheit. Heute wollen viele Hongkonger nur noch retten, was zu retten ist. Sie sprechen von der "letzten Schlacht" um ihre Stadt. Das Tempo, mit dem die KP den Rechtsstaat aushöhlt, hat bei den Hongkongern die Bereitschaft nur noch erhöht, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen gegen die Regierung auf die Straße zu gehen. Es geht hier längst um mehr als um ein Gesetz.

Wahrscheinlich wird Peking Carrie Lam in den kommenden Monaten austauschen. Ausreichen wird das nicht. Die Ernennung der Regierungschefs durch die Zentralregierung ist ein Symbol der Machtlosigkeit der Bevölkerung. Der Austausch der Führungsfigur könnte erneut provozieren. Um die Lage zu entspannen, bräuchte es einen grundsätzlich anderen Kurs Pekings. Den wird die chinesische Regierung nicht einschlagen. Chinas Führungsapparat unter Xi ist mehr denn je von der Sorge um den Machterhalt getrieben. Deshalb braucht es den Druck aus dem Ausland. Hongkonger haben ein Recht auf die Freiheiten, die ihnen zugesichert wurden. Wer ihre Lage ignoriert, resigniert vor dem autokratischen Regime.

Peking hat ein Interesse an Hongkong als einem globalen Wirtschaftszentrum. Es braucht Hongkong, weil es bis heute nicht geschafft hat, das Vertrauen in sein Rechtssystem zu stärken. 60 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen fließen über Hongkong ins Land. Die Stadt ist der wichtigste Handelsplatz für den Renminbi, den Peking zu einer Weltwährung machen will. Das Ausland muss der chinesischen Regierung also die Konsequenzen deutlich machen, die der Freiheitsentzug für Hongkong mit sich brächte. Peking mag keine Moral kennen, Wirtschaftsinteressen hingegen schon.

© SZ vom 21.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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