Chile:Alle gehen, er bleibt

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Massenproteste in Santiago, der Hauptstadt Chiles. (Foto: Claudio Reyes/AFP)

Um die beispiellosen Massenproteste im Land zu beruhigen, entlässt der Präsident sein gesamtes Kabinett. Die Proteste hatten sich vor einer Woche an der Erhöhung von Fahrpreisen für den öffentlichen Nahverkehr entzündet.

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

Chiles Präsident Sebastián Piñera hat seine gesamte Regierung entlassen. Er habe alle seine Minister zum Rücktritt aufgefordert, erklärte der Staatschef am Samstag. Dazu wolle er den Ausnahmezustand aufheben, "wenn die Umstände es erlauben". In der Hauptstadt Santiago de Chile wurde ebenfalls die seit einer Woche geltende Ausgangssperre beendet.

Chiles Staats- und Regierungschef reagiert damit auf die seit mehr als einer Woche anhaltenden Massenproteste gegen Sparmaßnahmen und soziale Ungleichheit. Am Freitag gab es in Santiago de Chile und in anderen Städten Demonstrationen, an denen mehr als eine Million Menschen teilnahmen. Es waren die größten Kundgebungen, die es in dem südamerikanischen Land je gegeben hat.

Die Proteste hatten sich vor einer Woche an der Erhöhung von Fahrpreisen für den öffentlichen Nahverkehr in Santiago entzündet. Rasch weiteten sie sich auf das ganze Land aus, mit Forderungen, die weit über eine Rücknahme der Preiserhöhung hinausgingen. Menschen aus allen Altersgruppen und sozialen Schichten demonstrierten gegen niedrige Löhne und Renten, gegen hohe Studiengebühren und die großen Unterschiede zwischen Arm und Reich im Land.

"Chile ist nun anders als das Chile, das wir vor einer Woche hatten", sagte Piñera im Präsidentenpalast

Im Zuge der Demonstrationen kam es auch wiederholt zu Ausschreitungen. Supermärkte wurden geplündert, U-Bahnstationen angezündet und es gab teils heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei. Mindestens 19 Menschen kamen dabei ums Leben, über 500 Menschen wurden verletzt. Es gibt Berichte von Folter und sexueller Gewalt durch die Sicherheitskräfte. Eine Sondermission der Vereinten Nationen besucht am Montag das Land, um die Vorwürfe zu prüfen.

Nach den anhaltenden und immer größer werdenden Demonstrationen hatte Piñera bereits Mitte vergangener Woche eine Rücknahme der Fahrpreiserhöhungen angekündigt sowie Sozialmaßnahmen wie das Anheben des Mindestlohns und der Mindestrente. Auch Strompreise sollen eingefroren werden. Die Proteste wuchsen aber dennoch weiter und fanden ihren Höhepunkt in den Kundgebungen, die es am Freitag im ganzen Land gab. Viele Demonstranten forderten grundlegende Wirtschaftsreformen, eine neue Verfassung und den Rücktritt des Präsidenten.

Das Land befinde sich in einer neuen Wirklichkeit, erklärte Piñera am Samstag. "Chile ist nun anders als das Chile, das wir vor einer Woche hatten", sagte der Staatschef bei einer Ansprache im Präsidentenpalast. Er wolle "eine neue Regierung bilden, um damit die neuen Herausforderungen bewältigen zu können." Auch am Samstag kam es erneut zu Protesten, die aber weitestgehend friedlich blieben. Die Polizei setzte vor dem Präsidentenpalast in der Hauptstadt Tränengas und Wasserwerfer ein. Freiwillige Helfer reinigen nach den Protesten nun die Straßen in Santiago und anderen Städten.

© SZ vom 28.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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