Chaos in Haiti:Straßensperren aus Leichen

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Katastrophe nach der Katastrophe: Die internationale Hilfe hat Haiti erreicht - und kommt doch nicht bei den Menschen an. Die Verzweiflung der Überlebenden schlägt nun in Wut um.

Die Überlebenden und die Toten teilen sich in Haiti dieselben Straßen, denselben Platz. Und die Toten sind überall. Um die Fliegen und den zunehmenden Verwesungsgeruch zu vertreiben, entzünden die Menschen Feuer. Für diejenigen, die der verheerenden Zerstörungskraft der Erdstöße lebend entkommen sind, beginnt der Überlebenskampf erst.

Nach dem Beben liegen in den Straßen Haitis die Opfer der verheerenden Erdstöße. (Foto: Foto: dpa)

"Man kann es nicht beschreiben", sagt Karel Zelenka von der Hilfsorganisation Catholic Relief Services. "Die Katastrophe, die Schäden, alles ist so überwältigend. Jeder trägt einen Schal oder etwas anderes vor dem Gesicht, weil der Geruch unerträglich ist."

Alleingelassen im Chaos

Korrespondenten internationaler Fernsehsender berichteten in der Nacht zum Freitag von dramatischen Szenen und einer zunehmend verzweifelten Bevölkerung in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince. Wegen ausbleibender Hilfe hätten aufgebrachte Haitianer Barrikaden aus Leichen errichtet.

Im Video: Die Überlebenden in Haiti warten verzweifelt auf Nahrungsmittel, Wasser und Medikamente. Die Wut über die ausbleibende Hilfe wächst.

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Noch immer graben die Menschen zumeist mit bloßen Händen in den Trümmern nach Überlebenden. Bereits die dritte Nacht in Folge verbrachten die meisten Einwohner von Port-au-Prince im Freien - aus Angst vor Nachbeben oder weil ihre Häuser zerstört sind.

Ein Reporter des Time-Magazins berichtete laut BBC von mindestens zwei Straßensperren, die verzweifelte Menschen in Port-au-Prince aus den Leichen der Erdbebenopfer errichtet hätten. "Es wird langsam hässlich da draußen", sagte der Fotograf Shaul Schwarz. "Die Leute haben es satt, dass ihnen nicht geholfen wird." Sie fühlten sich alleingelassen und wollten so gegen die ausbleibende Hilfe protestieren.

Nach Berichten von CNN-Korrespondenten wurden Tote massenhaft von den Straßen gesammelt und mit Radladern in große Lastwagen gekippt. Eine Identifizierung der Opfer sei kaum mehr möglich. Dafür fehle es an Zeit und Personal.

Der Flaschenhals der Hilfslieferungen

Inmitten des Todes und der Trümmer gibt es jedoch auch immer wieder Lichtblicke: Wie die staatliche brasilianische Nachrichtenagentur bekanntgab, betätigten sich brasilianische Soldaten nur zwei Stunden nach dem verheerenden Beben am Dienstagnachmittag in einer Garage als Geburtshelfer.

Die Mutter des Kindes habe mit rund 120 anderen Menschen in einer provisorischen Krankenstation um Hilfe gebeten. Die Frau habe das Erdbeben zwar unbeschadet überstanden, durch das Beben seien allerdings vorzeitige Wehen ausgelöst worden. Seit der Geburt leide die Frau unter unstillbaren Blutungen und kämpfe um ihr Leben, sagte ein Arzt. Das Baby, ein kleines Mädchen, sei jedoch wohlauf.

Als größtes Hindernis der mittlerweile eintreffenden Hilfslieferungen aus aller Welt erweist sich unterdessen der beschädigte Flughafen der Hauptstadt. "Dank der sofortigen Hilfe so vieler Staaten haben wir sehr viel Personal und Hilfsgüter. Aber wir müssen sie auch ins Land bringen. Die Flughäfen sind der Flaschenhals", klagte UN-Nothilfekoordinator John Holmes in New York. Doch der Luftraum über Haiti ist überfüllt. Toussaint L'Ouverture, der Flughafen von Port-au-Prince, ist dem Ansturm der so dringend benötigten Hilfslieferungen nicht gewachsen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum bei der Bestattung der zahllosen Erdbebentoten religiöse Überzeugungen der Haitianer berücksichtigt werden müssen.

Erdbeben in der Karibik
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Nach dem Erdbeben in Haiti wird immer mehr das Ausmaß der Katastrophe deutlich. In Bildern

Die Regierung Haitis bat die USA und andere Länder, vorerst keine weiteren Flüge nach Port-au-Prince zu leiten, wie die US-Luftfahrtbehörde FAA mitteilte. Ein US-Militärflugzeug und zehn zivile Flugzeuge kreisten über der Hauptstadt Haitis und warteten darauf, dass andere Flugzeuge die Landebahn freigeben, sagte eine FAA-Sprecherin. Doch auf dem Boden wird der Treibstoff knapp: Für Maschinen, die wieder aus Haiti wegfliegen wollen, gibt es kaum noch Kerosin.

Die Folgen des zerstörerischen Bebens, das den bitterarmen Inselstaat Haiti mit einer Stärke von 7,0 traf, löste weltweit eine Welle der Hilfsbereitschaft aus. US-Präsident Barack Obama sagte 100 Millionen US-Dollar (rund 69 Millionen Euro) zu. Auch die Weltbank und der Internationale Währungsfonds machten Zusagen in Höhe von je 100 Millionen Dollar.

USA an der Spitze der Helfergemeinschaft

Haiti habe derzeit oberste Priorität für seine Regierung, sagte Obama. Angesichts des Chaos und der noch weitgehend fehlenden Koordination der Hilfsmaßnahmen stellten sich die USA - unter der Leitung der Ex-Präsidenten Bill Clinton und George W. Bush - an die Spitze der internationalen Helfergemeinschaft.

Ein Sprecher des US-Außenamts sagte, es seien bereits acht Rettungsteams mit insgesamt 260 Mitarbeitern vor Ort im Einsatz. 30 Länder hätten Hilfe zugesagt - darunter Deutschland, Frankreich und Großbritannien: Such- und Bergungsteams, Ärzte, Spürhunde, Medikamente und Lebensmittel seien teilweise bereits vor Ort oder auf dem Weg nach Haiti. Das Deutsche Rote Kreuz wollte am Freitag eine mobile Klinik nach Haiti fliegen.

5000 US-Soldaten bereiteten sich auf ihren Einsatz vor. Am Mittwoch hatten sich der Flugzeugträger USS Carl Vinson sowie Flugzeuge und Hubschrauber in Richtung Haiti in Bewegung gesetzt.

Auch von prominenter Seite gibt es Angebote für Hilfsaktionen: Der US-Schauspieler George Clooney hat mit Kollegen eine TV-Spendenaktion ins Leben gerufen. Zahlreiche Schauspieler und Musiker haben bereits gespendet und ihre Fans zur Mithilfe aufgerufen.

Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy machte sich unterdessen für eine internationale Wiederaufbau-Konferenz für Haiti stark. Über diesen Vorschlag wolle er mit Obama sprechen, sagte er in Paris. Die spanische EU-Ratspräsidentschaft plant für Montag ein Sondertreffen der europäischen Entwicklungshilfeminister zu Haiti.

Voodoo für die Toten

So lange darf es allerdings nicht mehr dauern, bis die Hilfe auch konkret bei den Bedürftigen ankommt - die Situation ist dramatisch: Aus Angst vor dem Ausbruch von Seuchen bot Brasilien den Bau eines Friedhofs für die zahllosen Erdbebentoten in Haiti an.

Dabei werde auf die in dem Karibikstaat weitverbreitete Voodoo-Religion Rücksicht genommen, erklärte das Verteidigungsministerium in Brasilia. Anhänger des Voodoo-Glaubens lassen es nicht zu, dass ihre Toten vor Beendigung der Trauerzeremonien berührt werden. Nach Schätzung des Roten Kreuzes muss mit 40.000 bis 50.000 Erdbebentoten gerechnet werden - Tausende Leichen liegen im Erdbebengebiet noch unbestattet im Freien.

"Manche Leute bestatten ihre Toten an Abhängen, so dass sie bei Regen wieder aufzutauchen drohen", hieß es in der Erklärung der brasilianischen Regierung.

© AFP/AP/dpa/Reuters/jobr/cgr/odg - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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