Camerons berechtigte EU-Kritik:Mehr Demokratie, weniger Regelungswut

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Wohlwollender Partner oder nimmersatter Zuständigkeitskrake? Der britische Premier David Cameron hat recht, wenn er sagt, dass die EU transparent und effizient werden müsse. Sonst ist das Vertrauen der Bürger bald ganz weg.

Ein Gastbeitrag von Günter Verheugen

David Cameron, der britische Premierminister, hat ausgesprochen, was viele in Europa denken. Die EU wird von einer großen Zahl der Bürgerinnen und Bürger nicht als nützlicher und wohlwollender Partner begriffen, sondern als nimmersatter Zuständigkeitskrake, der sich mit immer mehr Regelungen überall einmischt. Wer nun mit teilweise aggressiver Rhetorik nach "mehr Europa" verlangt, muss wissen, dass in einer breiten Öffentlichkeit inzwischen dieser Wunsch nach "mehr Europa" nicht als Verheißung, sondern als Drohung aufgefasst wird.

Es gibt ein großes, nun schon mehr als zwei Jahrzehnte andauerndes und sich sogar verfestigendes öffentliches Unbehagen, was die europäische Integration betrifft. Es richtet sich nicht gegen die Idee, sondern entspringt dem, was in den Jahrzehnten im Namen dieser Idee alles gemacht wurde. Und dieses Unbehagen sitzt sehr, sehr tief. Neue, auch weitgehende Vertiefungsschritte sind auf mittlere Sicht notwendig, wenn die EU nicht einen weiteren Verlust ihres politischen und wirtschaftlichen Gewichtes erleben will. Aber bevor man zu einem großen Sprung nach vorn ansetzt, muss die EU besser werden. Ansonsten wird jeder neue Vertrag mit tödlicher Sicherheit irgendwo an der Ratifizierungshürde scheitern.

Die Gemeinschaft hat es zudem versäumt, sich der Wertigkeit jedes Mitglieds für die Union bewusst zu werden. Wie viele europäische Politiker geben heute etwa den Briten das Gefühl, dass die Mitgliedschaft Großbritanniens für das Land, aber auch für die EU ein Glücksfall ist?

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David Cameron will ein anderes Europa - er und die Briten verdienen darauf eine Antwort. Es ist an der Zeit, offen darüber zu sprechen, wie Europa aussehen soll. Andernfalls steht nicht nur Großbritanniens Mitgliedschaft auf dem Spiel, sondern die ganze Union.

Ein Kommentar von Daniel Brössler

Wo Cameron recht hat, hat er recht

Indem Cameron das Referendum auf die Zeit nach der nächsten Wahl verschiebt - und die muss er dazu erst mal gewinnen - entsteht ein Zeitfenster, das alle nutzen sollten, die Brüsseler Institutionen und die nationalen Parlamente und Regierungen, und zwar klug und herzhaft. Denn wo Cameron recht hat, hat er recht. Die Prinzipien, an denen er die EU ausrichten möchte, treffen ihre wunden Punkte ganz genau. Muss die Kompetenzübertragung in der EU immer eine Einbahnstraße sein? Wenn man das von den Deutschen so heiß geliebte Subsidiaritätsprinzip ernst nimmt, wird man vieles finden, was man getrost wieder den Mitgliedstaaten überlassen kann. Und brauchen wir immer mehr Vorschriften und Regeln in der EU?

Es ist ein völliger Irrtum zu glauben, dass sich die Integration durch immer mehr Vorschriften verwirklicht. Wir stecken in einer tiefen Krise, aber die Brüsseler Mühlen mahlen unbeirrt weiter. Der 2006 begonnene Abbau unnötiger Bürokratie, einst von der Kommission in Gang gesetzt, ist versandet - kein weiterer Handlungsbedarf, sagt die Kommission. Punkt. Schluss. Als wäre allen Bürokratiemonstern bereits der Garaus gemacht. Oder ist alles sinnvoll, wofür die EU Geld ausgibt? Wie viele Projekte entstehen nur, weil es dafür Fördermittel gibt, und nicht deshalb, weil sie zwingend für Wachstum und Beschäftigung sind? Wie lange können wir uns die Agrarlastigkeit des EU-Haushalts noch leisten?

Im Kern verlangt Cameron das, was wir alle von der EU wollen: mehr Demokratie, mehr Transparenz, mehr Effizienz, weniger Regelungswut. Cameron will, dass die EU sich auf ihre drängenden Zukunftsprobleme konzentriert: Bei ihm steht die notwendige Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der EU an vorderster Front - denn nur so wird die bedrückend hohe Arbeitslosigkeit überwunden werden können. Die Forderungen Camerons sind nicht neu. Er hat Briefe geschrieben, unterstützt von zwölf Regierungschefs. Aber Paris und Berlin haben sie immer wieder geflissentlich ignoriert, um dann schließlich 2012 doch der von den Briten seit Beginn der Krise geforderten Balance zwischen Sparpolitik und Wachstumspolitik nachzugeben.

Es ist wahr, dass die Briten uns gelegentlich nerven. Nur, wir Deutschen trampeln auch ganz munter auf den Gemütern anderer herum. Was macht die Briten also so speziell? Sie sind nicht von Anfang an mit dabei gewesen, das ist es, was wir ihnen verübeln. Und sie haben von Anfang an nicht den europäischen Superstaat gewollt, den vermeintlich glühende Europäer so lange erträumten. Es waren jedoch die Briten und eben nicht die Franzosen, die als Erste bereit waren, den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg wieder die Hand zu reichen. Sie haben die europäische Integration unterstützt, als Paris noch zögerte. Aber das haben wir vergessen, wie wir auch vergessen haben, dass die Briten lange vor der europäischen Tür stehen mussten, weil de Gaulle sie nicht haben wollte. Ist es dieses Erlebnis, das Großbritannien bis heute zu einem vehementen Befürworter einer Politik der offenen Tür für neue Mitgliedstaaten werden ließ?

Pragmatisch und ergebnisorientiert

Ich jedenfalls kann mir den europäischen Alltag ohne die britische Stimme nur schwer vorstellen. Die britische Stimme ist pragmatisch und ergebnisorientiert. Sie schwebt nicht im Wolkenkuckucksheim, sondern fußt auf einer scharfen Analyse der Realitäten. Die konsequente Absage Großbritanniens an Protektionismus jedweder Gestalt - wie sähe unsere europäische Handelspolitik ohne die Briten aus? Ich kann mir auch keine europäische Außen- und Sicherheitspolitik ohne Großbritannien vorstellen: Wir wären dann ein globaler Niemand. Und eine europäische Demokratie ohne ihr Mutterland, das will ich mir gar nicht erst vorstellen. Das klare Bekenntnis zur Vielfalt - das ist doch keine britische Schnurre. Es ist das, was wir wollen: die Einheit in der Vielfalt.

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Aber Vielfalt ist nicht immer bequem. Sie kann stören. Sie muss manchmal auch stören. Doch die neue europäische Tonlage geht so: Wer stört, der kann ja gehen, der fliegt raus. Wer so denkt, hat vergessen, dass, wenn einer geht, die Probleme bleiben und sich eben nicht vor die Tür setzen lassen. Cameron hat uns Deutschen den Ball direkt vor die Füße gespielt. Wir könnten, ja wir sollten uns an die Spitze der europäischen Reformbewegung setzen. Nichts hindert Bundeskanzlerin Angela Merkel daran, den Ball aufzunehmen und im Europäischen Rat klare politische Aufträge für eine Reform und Weiterentwicklung der EU zu verabreden - mit festen Zeitplänen und einer strikten Erfolgskontrolle, um das Ganze nicht den Apparaten zu überlassen.

Die EU zu reformieren, das ist eine politische Führungsaufgabe erster Klasse. Es ist eine mühsame Aufgabe, und wer sie übernimmt, wird auch immer wieder an seine Grenzen stoßen. Aber anders wird die Gemeinschaft der Staaten das Vertrauen der europäischen Bürgerinnen und Bürger in die europäische Integration nicht wiedergewinnen können. Und das ist mittlerweile auf dem absoluten Tiefpunkt angekommen.

Günter Verheugen, 68, war 1999 bis 2004 EU-Kommissar für die Erweiterung der Union. Bis 2010 war der SPD- Politiker dann Vizepräsident der Europäischen Kommission und zuständig für Unternehmen und Industrie.

© SZ vom 05.02.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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