Normalerweise sollte es Anlass zur Freude sein, wenn ein Krebskranker den Diagnosen seiner Ärzte hohnlacht und länger lebt als vorhergesagt. Doch im Fall des als Drahtzieher des Lockerbie-Anschlags verurteilten libyschen Terroristen Abdelbaset al-Megrahi dürfte sich die Freude über seine gute Gesundheit auf den engeren Freundes- und Familienkreis beschränken. Im größeren Rahmen hat sein Fall teils Zorn, teils betretenes Schweigen ausgelöst.
Megrahi war im August 2009 aus humanitären Gründen aus schottischer Haft entlassen worden, nachdem Ärzte festgestellt hatten, dass er nur noch drei Monate zu leben habe. Die USA, deren Staatsbürger die Mehrzahl der 270 Opfer von Lockerbie ausmachten, waren empört.
Nun hat sich diese Empörung zur Weißglut gesteigert. Denn Megrahi erfreut sich ein Jahr später offensichtlich relativ guter Gesundheit. Und hinter dem Dringen auf seine Freilassung scheint ein Unternehmen zu stehen, das in den USA derzeit ohnehin die Rolle des Erz-Spitzbuben spielt: der Konzern BP mit seinem Ölleck im Golf von Mexiko.
Britanniens neuer Premier David Cameron wird sich bei seinem ersten offiziellen Washington-Besuch also unangenehme Fragen gefallen lassen müssen. Zu Camerons Gunsten spricht freilich, dass er alle Schuld auf seine Vorgänger Gordon Brown und Tony Blair abwälzen kann, und dass er als Oppositionsführer Megrahis Freilassung nachdrücklich verurteilt hat.
Das könnte ihm helfen, Kritik abzuwehren und das britisch-amerikanische Verhältnis vor einer weiteren Verschlechterung zu bewahren. Mehr kann er nicht tun. Das Bohrloch können nur BP-Ingenieure schließen. Und Megrahis Schicksal liegt in Allahs Hand.