Erik Schweickert sitzt wieder auf seinem Platz. Am Rednerpult des Deutschen Bundestages hat er sich noch zusammenreißen können. Jetzt aber ist es vorbei. Er zieht ein weißes Taschentuch hervor, nimmt seine Brille ab und tupft sich die Augen trocken.
Schweikert gehört zu den 170 Abgeordneten des Bundestages, die sich im Vorfeld der Debatte noch nicht auf einen der drei Gesetzesanträge zur Präimplantationsdiagnostik (PID) festgelegt haben. Und doch will er jetzt und hier reden. Er sagt, das sei er vor allem seiner Familie schuldig.
Dass er heute eine Familie habe, das sei vor zwei Jahren nicht sicher gewesen, sagt er. Das habe, wie er es formuliert, "auf der Kippe gestanden". Es ist spürbar, wie schwer es ihm noch immer fällt, darüber zu reden. Nach der Geburt seines Kindes habe sowohl das Leben des Babys als auch das seiner Frau auf dem Spiel gestanden.
Da seien auch andere Eltern gewesen, mit denen er habe sprechen können in diesen bangen Tagen auf der Intensivstation. Eltern die schon ein behindertes Kind hätten und jetzt wieder um das Leben eines Kindes fürchten müssten, Eltern die gesagt hätten, eine PID hätte ihnen geholfen. Eltern die einfach nicht so viel Glück gehabt hätten wie er.
Sein Kind und seine Frau haben überlebt.
Er habe dort Menschen kennengelernt, die in der Lage gewesen wären, individuell und verantwortungsbewusst zu entscheiden, ob sie nach einer künstlichen Befruchtung die dabei erzeugten Embryonen auf schwere Erbkrankheiten hin untersuchen lassen würden. Schweickert holt tief Luft: "Ich sehe nicht ein, dass ich diesen Paaren diese Hilfe nun verweigern soll." Er wird für die weiter gehende Freigabe der PID stimmen.
Vielleicht sind es Beiträge wie dieser, der die vielen unentschlossenen Abgeordneten bewegt, mit Schweikert zu votieren. Schon im ersten Wahlgang kommt der Antrag von Ulrike Flache (FDP), Peter Hintze (CDU), Carola Reimann (SPD) und anderen mit 306 Stimmen auf die erforderliche Mehrheit. In der Schlussabstimmung konnte der Antrag sogar noch 20 Stimmen mehr auf sich vereinigen.
Schneller als erwartet hat sich das Parlament damit auf einen Gesetzentwurf geeinigt. Auch wenn der Flach-Antrag von vornherein mehr Unterstützer aufzubieten hatte als die strikten Gegner der PID um die Grünen-Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt und den Unions-Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder, die auf 228 Stimmen kommen. Der dritte Antrag des SPD-Abgeordneten René Röspel und anderen bleibt mit 58 Stimmen chancenlos.
Bald vier Stunden debattieren die Abgeordneten vor der Entscheidung. Der Fraktionszwang ist aufgehoben, die Positionen verlaufen quer durch alle Parteien, so dass sich etwa CDU-Mann Kauder unterstützt sieht von der Linken-Abgeordneten Kathrin Vogler und die Grüne Göring-Eckhardt vom FDP-Kollegen Pascal Kober.
Die Embryo-Perspektive
Der Unterscheid zwischen den beiden Lagern wird schnell deutlich: Die PID-Gegner argumentieren ausschließlich aus Sicht des in der Petri-Schale gezeugten Embryos. Wolfgang Thierse von der SPD warnt, mit der PID "ermöglichen wir die Qualitätsüberprüfung menschlichen Lebens". Menschliches Leben beginne mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Menschenwürde müsse also "zu diesem Zeitpunkt beginnen". Mit der PID aber würden Embryonen "als Sachen behandelt". Sie würden "erzeugt zum Zwecke der Auswahl".
Andere wie der CSU-Politiker Wolfgang Zöller oder der Linken-Abgeordnete Ilja Seifert - selbst an den Rollstuhl gebunden - erklären, PID führe zu Selektion und öffne das Tor zur Diskriminierung von Behinderten. Viele Gegner warnen vor der Gefahr, dass künftig Babys nach dem Baukastenprinzip zur Welt gebracht werden könnten.
SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles, selbst lange Jahre ungewollt kinderlos, wie sie in der Debatte bekennt, erzählt von einer Freundin, die ein zweites Kind mit Hasenscharte zur Welt brachte und danach in Tränen ausbrach. Eine Ärztin habe beiläufig bemerkt: Ja, haben Sie sich denn nicht genetisch beraten lassen? Mit der PID werde das zur "Standartfrage von Ärzten".
Durchgesetzt aber haben sich die Befürworter eine begrenzten Freigabe der PID. Sie gehen grundsätzlich von den Eltern aus, die selbst genetisch vorbelastet sind, schon behinderte Kinder und/oder Totgeburten erlebt haben und auf natürlichem Weg kaum noch Chancen haben, gesunde Kinder bekommen zu können. Die körperlich und psychisch äußerst belastende Prozedur der künstlichen Befruchtung ist Voraussetzung für eine PID.
Diesen Eltern soll mit der PID die Chance gegeben werden, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen. Eine Ethikkommission und verpflichtende Beratungsgespräche sollen Eltern dabei vor Fehlentscheidungen schützen.
Doch auch die Befürworter argumentieren mit dem Lebensschutz. Wer die PID verbiete, der "setzt Frauen und Familien einem schweren Konflikt aus", prophezeit Ulrike Flach, die die Debatte am Morgen eröffnet. Ohne PID nämlich würden der Frau möglicherweise nicht lebensfähige oder stark erbkranke Kinder eingepflanzt. Die PID könne also Spätabtreibungen, die in solchen Fällen bis kurz vor der Geburt möglich sind, verhindern.
Ganz am Schluss tritt als letzte Rednerin Ursula von der Leyen auf. Sie hat viele Jahre als Gynäkologin gearbeitet, bevor sie in die Politik ging. Nach ihrer Ausbildung glaubte sie anfangs, vieles zu wissen, sagt sie. Doch "die Wucht des Schicksals rund um Schwangerschaft und Geburt haben mich sehr still werden lassen".
Die Wucht des Schicksals
Die für sie entscheidende Frage laute: "Auf wessen Schultern lastet am Ende die Verantwortung?" Sicher auch bei den Abgeordneten. Doch bei aller Sorgfalt, die die Abgeordneten in dieser Frage an den Tag legten, "spüren wir am Ende die Wucht des Schicksals nicht am eigenen Leib, an der eigenen Seele".
Letztlich seien es die Eltern, die in der "Verantwortung vor Gott, vor dem ungeborenen Leben, und den eignen Kindern stehen, seien sie behindert oder nicht behindert". Das Totalverbot gehe von einem bevormundeten Menschen aus, sagt von der Leyen. "Wir gehen von einem mündigen Menschen aus." Der Applaus nach der Rede von der Leyens macht klar, dass es die Gegner der PID an diesem Tag schwer haben werden. CDU-Mann Jens Spahn hatte zuvor noch an die Unentschlossenen appelliert, im Zweifel für ein Verbot zu stimmen. Die Mehrheit aber stimmte im Zweifel für die Eltern.
Als das Abstimmungsergebnis bekanntgegeben wird ballt Ulrike Flach vor Freude die Faust. Auch ein Zeichen dafür, dass es hier nicht um irgendeine Sachentscheidung ging. Wäre schön, wenn es solche Momente im Bundestag öfter geben könnte.