Vor wenigen Tagen ist John Kerry, der frühere US-Außenminister, in Mailand aufgetreten. Es war ein nur kleines Abendessen und doch ein großes Ereignis. Es war der Besuch aus einer untergegangenen Welt. Einer Welt, in der ein US-Präsident regierte, der auf internationale Kooperation setzte. In der sein Außenminister die Europäer als engste Partner einband und seinem deutschen Kollegen blind vertraute. Es war schön, weil es war, wie es sein sollte.
Heute steht die Welt Kopf. Amerika bricht internationale Verträge statt sie zu beschützen; es befeuert Konflikte statt sie einzudämmen. Und was sagt Kerry? Er ruft Europa zu, dass es "endlich an sich selbst glauben muss". Kerrys Botschaft, auch an Deutschland: Seht die Krise, erkennt die Gefahr, übernehmt die Verantwortung, die Euch zufällt.
Berlin will "mehr Verantwortung übernehmen" - wann denn?
Es ist gut möglich, dass der Kanzlerin Kerrys Auftritt entging. Nicht möglich ist, dass Angela Merkel und ihre Koalition keine Ahnung haben, was Kerry gemeint hat. Deutschland ist in der Welt angesehen, weil es Lehren aus den Weltkriegen gezogen hat. Deutschland ist eine der reichsten Nationen der Erde; es ist einer der größten Profiteure des Welthandels. Es lebt seit Jahrzehnten wie kein anderes Land von einer Welt, die durch Abkommen und Verträge geregelt wurde. Deshalb ist es nicht nur aus Sicht Kerrys überfällig, dass Deutschland klärt, welche Rolle es in dieser Welt einnehmen möchte.
Seit einiger Zeit heißt die Zauberformel, Berlin wolle "mehr Verantwortung übernehmen". Zuletzt hat das Außenminister Heiko Maas beteuert, als klar wurde, dass Berlin 2019 für zwei Jahre als nicht-ständiges Mitglied in den UN-Sicherheitsrat einzieht.
Doch was seit Jahren gut klingen soll, wird seit langem nicht ausreichend unterfüttert - nicht finanziell, nicht mit einer überwölbenden Idee, nicht mit dem Versuch, den Wählern zu erklären, was mehr Verantwortung konkret heißen wird. Wie soll das Publikum derlei verstehen, wenn die Regierung selbst hin und her schwankt? Kaum ruft die Verteidigungsministerin nach mehr Geld für die marode Bundeswehr, wehrt sich die SPD gegen eine Militarisierung der Außenpolitik. Kaum erklärt der SPD-Außenminister, man wolle mehr Verantwortung übernehmen, dringen Berichte an die Öffentlichkeit, dass dem Auswärtigen Amt immer mehr Diplomaten fehlen. So überzeugt man nicht, so verwirrt man Verbündete und Partner.
Dabei wäre es nötig, offen auszusprechen, dass Deutschlands Leben im Paradies mit wunderbaren Handelsüberschüssen bei einem verglichen damit ziemlich geringen Beitrag zum Erhalt von Frieden und internationaler Ordnung nicht mehr lange gut gehen wird. Dass Donald Trump einem das in seiner Art entgegen schleudert, kann Berlin nicht mehr überraschen. Aber wenn Emmanuel Macron das wie in Aachen sehr freundlich, aber deutlich wiederholt, wird es Zeit, die Kritik ernst zu nehmen.
Dieses Ungleichgewicht nämlich hat dazu geführt, dass deutsche Appelle zu Vernunft und friedlichen Lösungen von Konflikten auf immer mehr Ohren billig wirken - und immer häufiger verhallen. Die entsprechende Kritik kann man von China und Indien über Russland und die USA bis hinein in die EU immer häufiger hören.
Es war deshalb richtig, dass die Kanzlerin das Thema am Mittwoch aufgegriffen hat. Aber sie wird weit übers Parlament hinaus erklären müssen, wie das deutsche Engagement aussehen soll. Hier vermitteln, dort humanitäre Hilfe, im Notfall ein Militäreinsatz - das bleibt zu viel Stückwerk.
Nun muss man einräumen, dass das Geld für die Entwicklungszusammenarbeit und die Bundeswehr steigen wird. Und ja, die Budgets der beiden Ressorts sollen als Zeichen eines Gleichgewichts zwischen militärischem und zivilem Teil in gleichen Schritten anwachsen. Und doch gibt es bis heute zwar das schöne Wort vom vernetzten Ansatz, aber kein umfassendes Konzept, wie man Diplomatie, militärische Möglichkeiten und friedenserhaltende Instrumente so verbindet, dass sie ineinandergreifen und nicht immer wieder gegeneinander ausgespielt zu werden.
Warum wird die Idee eines deutschen oder europäischen Friedenscorps nie zu Ende gedacht, mit dem sich in einer krisenhaften Welt mit vielen bedrohten Staaten stabilisierende Fähigkeiten gezielt einsetzen ließen? Mit Soldaten und Diplomaten, mit Polizisten, Juristen und Medizinern? Mit breiter Expertise also, die Deutschland hat und gebündelt in ein EU-Friedenscorps einbringen könnte. Warum gibt es in der EU den Start einer Verteidigungsgemeinschaft, aber nicht den Versuch, damit etwas Neues, Vorbildhaftes zu entwerfen? Etwas zudem, das den Willen zur Wehrhaftigkeit mit dem Wunsch nach Zivilität verbindet.
Geht nicht? Haben wir noch nie gemacht? Diese abwartende Haltungpassen nicht mehr in die brüchige Welt des Jahres 2018.
Eher muss man sich fragen, warum es in zwölf Jahren Merkel noch nie eine Klausur der Regierung gegeben hat, bei der die Kanzlerin und das Kabinett umfassend über Deutschlands Rolle in der Welt diskutierten. Warum gibt es zwar ein Weißbuch zur Außenpolitik, das einige Expertenzirkel beschäftigt - aber kein Bemühen der zuständigen Minister, die Idee einer Vernetzung von Diplomatie, Entwicklungshilfe, Bundeswehr und zivilen Aufbaukräften so zu verbinden, dass man es auch Nicht-Experten erklären kann? Ist es wirklich nicht möglich, den Verbündeten wie der eigenen Bevölkerung zu erklären, wie sich ein friedliebendes Deutschland als Teil eines friedliebenden Europa die selbstbewusste Antwort auf Autokratien und Krisen vorstellt?
Auf diese Fragen drängt sich die Antwort auf, dass eine Kanzlerin, die das "Auf-Sicht-Fahren" zur obersten Maxime erklärt hat, eine solche Debatte bislang nicht führen konnte oder wollte. Denn zu dieser Debatte würde gehören, auch der eigenen Partei und den eigenen Wählern zu begründen, warum für die Welt da draußen mehr Mittel aufgebracht werden müssen. Merkel scheut das, dabei ist es überfällig.
Es hat diesen Versuch schon einmal gegeben. Gemeint ist der Dreischlag 2014, als der damalige Bundespräsident Joachim Gauck, Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und der einstige Außenminister Frank-Walter Steinmeier gleichzeitig versuchten, eine Debatte über mehr Engagement und Verantwortung zu provozieren.
Ergebnis war eine kurze Debatte über die neue Welt und ihre Konsequenzen für Deutschland. Doch haften blieb kaum etwas, die meisten Ideen versandeten. Und im Bundestagswahlkampf spielten all diese Fragen trotz Trump, Brexit und Flüchtlingskrise überhaupt keine Rolle mehr. Deutschland richtete den Blick unter Mithilfe aller Parteien nach innen. Ganz so, als könne man die Veränderungen durch Ignorieren bekämpfen.
Das freilich geht nie. Und es geht auch nicht im Falle Israels, das in den letzten Tagen beinahe am meisten Sorgen bereitet. Hier ist der moralische Anspruch Deutschlands besonders hoch und das Bemühen, trotz aller Schwierigkeiten die Hoffnung auf Frieden am Leben zu lassen, besonders gering geworden.
Was wäre eigentlich, wenn man trotz der aktuellen Lähmung durch permanente Besuche jene Israelis und Palästinenser stärkt, die sich nach Frieden sehnen? Was würde passieren, wenn man gerade als Deutschland trotzdem und erkennbar immer wieder Israelis und Palästinenser zusammenbringt, um allen zu zeigen: Wir lassen uns auch von den größten Widrigkeiten nicht aus der Ruhe bringen?
Wenn Israels Sicherheit tatsächlich zur Staatsräson Deutschlands gehört, dann müsste es dringend zur Räson dieser Regierung zählen, freundlich zugewandt und geduldig präsent zu sein in Israel und in den besetzten Gebieten.
Und Europa? Es ist eine Binsenweisheit, dass Deutschland und seine Außenpolitik nur im Rahmen einer gemeinsamen europäischen Politik erfolgreich sein können. Aber es ist genauso richtig, dass eine gemeinsame europäische Außenpolitik kaum ein Gesicht bekommen kann, solange Deutschland auf die wichtigsten Fragen keine Antworten liefert.
Die Welt ändert sich dramatisch und Deutschland sucht noch immer nach einer Antwort.