Trauer um Pandemie-Opfer:Hinter jeder Zahl ein Schicksal

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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier führte im Schloss Bellevue ein Gespräch mit Hinterbliebenen, die in der Corona-Pandemie Angehörige verloren haben. (Foto: Wolfgang Kumm/dpa)

Bundespräsident Steinmeier spricht mit Hinterbliebenen von Corona-Toten. Die Gespräche offenbaren, wie sehr der Kontakt zu den Sterbenden fehlt.

Von Simon Groß, Berlin

Michaela Mengel hat ein großes Bild von ihrer Tochter hinter sich aufgestellt. Sie erzählt davon, wie aufopferungsvoll sie sich in all den Jahren um sie gekümmert hatte, was für ein fröhlicher Mensch ihre Tochter trotz der schweren geistigen Behinderung doch war. Sie erzählt, wie ihre Tochter kurz vor Weihnachten Fieber und Husten bekam. Wie die Symptome immer schlimmer wurden und ihre Tochter morgens am Heiligabend ins Krankenhaus gefahren wurde.

Sie erzählt, wie sie an Weihnachten alleine Zuhause saß, weil sie nicht bei ihrer Tochter im Krankenhaus bleiben durfte. Und wie sie als starke Mutter schließlich doch zu ihr fuhr, als sie den Anruf erhielt, dass sie sich nun von ihrer Tochter verabschieden dürfe. Mengels Tochter starb im Januar wie bislang mehr als 70 000 andere Menschen in Deutschland am Coronavirus.

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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte am Freitag fünf Gäste zu einem Gespräch eingeladen, die fast alle einen engen Angehörigen in der Pandemie verloren haben. Zwei davon saßen mit Steinmeier im Schloss Bellevue, drei weitere, darunter auch Mengel aus Essen, waren per Video zugeschaltet.

Sie berichteten von den letzten Augenblicken mit ihren Liebsten und warum es in der Pandemie besonders schwer fällt, zu trauern. "70 000, das ist und bleibt eine erschütternde, eine verstörende Dimension", sagte Steinmeier zu Beginn der Veranstaltung. Es seien nicht nur einfach Fallzahlen, "hinter jeder einzelnen Zahl steckt ein Schicksal." Dahinter stünden Menschen, die gebangt, gezittert und gekämpft hätten, und die sich manchmal nicht von ihren Liebsten hätten verabschieden können.

Wie Trauer und Leid überwinden?

So wie Kirsten Grieshaber. Der Vater der in Berlin lebenden Journalistin kam zunächst wegen einer Lungenembolie ins Krankenhaus. Eine Woche nachdem er entlassen wurde, musste er wieder zurück. Der 80-Jährige habe sich im Krankenhaus mit dem Coronavirus angesteckt, vermutet Grieshaber. Das war Ende Oktober und der Anfang der zweiten Welle, die Krankenhäuser ließen fast niemanden mehr zu den infizierten Patienten. Erst ging es ihm noch ganz gut, als die Mutter dann ebenfalls wegen einer Covid-19-Infektion eingeliefert wurde, ging es dem Vater schnell schlechter.

Sehen konnten sich die beiden Eltern lange nicht. Erst Grieshabers Schwester schaffte es, zusammen mit ihrer Mutter noch einmal in Schutzkleidung vermummt den Vater zu besuchen. Er habe zumindest ihre Stimmen erkannt, erzählt die Journalistin. "Eigentlich braucht man menschliche Gesichter, eine Berührung, dass jemand die Hand von einem hält", das alles verhindere das Virus aber. Sie selbst sah ihren Vater nicht noch einmal.

Wie können Trauer und Leid überwunden werden, wenn das wichtigste, nämlich der Kontakt zu anderen Menschen, kaum möglich ist? Das, so sollte sich zeigen, war das bestimmende Thema an diesem Vormittag. Viele hätten von ihren Liebsten nur im allerkleinsten Kreis Abschied nehmen können, sagte Steinmeier.

Beerdigung mit wenigen Besuchern

Aslan Mahmood, der nur einen Steinwurf vom Sitz des Bundespräsidenten entfernt aufgewachsen ist, hat das erlebt. Sein aus Pakistan stammender Vater, der im November an Covid-19 gestorben ist, sei ein beliebter Mann gewesen, erzählt Mahmood. Als Supermarkt-Inhaber habe er viele Kontakte gehabt, sich aber auch ehrenamtlich und politisch engagiert.

Als dann die Beerdigung anstand, musste seine Familie die Besucherliste begrenzen. In dem Laden, den er von seinem Vater übernommen hat, hätte er sich immer wieder dafür entschuldigen müssen, dass Bekannte nicht kommen durften. Angehörige würden so zusätzlich belastet, erklärt Seelsorger Andreas Steinhauser, dessen Großmutter während der Pandemie in einem Pflegeheim gestorben ist. Sie stünden vor der schwierigen Aufgabe, Gäste auswählen und andere abweisen zu müssen: "Wer darf kommen und wer nicht?"

Auch die Passauerin Anita Schedel hätte sich eine größere Trauergemeinschaft zur Beerdigung ihres Mannes gewünscht, lediglich zehn bis 12 Personen waren vergangenes Frühjahr dort. Das sei bitter gewesen, erzählt sie. Dabei hätte sie es wichtig gefunden, dass sich all die anderen Menschen ebenfalls von ihrem Mann hätten verabschieden können. Sie selbst litt auch darunter. "Ich dachte, ich werde die Beerdigung in dieser Form nicht überstehen, weil man als Trauernde nicht getragen wird von Familie und Freunden", sagt Schedel. Die Rituale und die gemeinsame Verabschiedung haben ihr sehr gefehlt, deshalb gehe sie weiterhin auch nur ungern auf den Friedhof. Das Grab habe für sie so keine Bedeutung.

Als langjährige Trauerbegleiterin weiß Regina Ziegler, was die aktuellen Umstände für Hinterbliebene bedeuten. Sie berichtet, wie schwer es für die Trauernden ist, zurück ins Leben zu finden, wenn es kaum eine Möglichkeit gibt, mit jemandem zu sprechen oder sich in den Arm nehmen zu lassen. Das gelte nicht nur für die Angehörigen der Corona-Toten, sondern für die aller im vergangenen Jahr verstorbenen Menschen, sagt Ziegler. "Die Menschen verstehen vom Kopf her die Beschränkungen, aber emotional brauchen sie Zeichen von Zuwendung und Halt." Es sei eine Gratwanderung, die Würde der Lebenden, aber auch die der Sterbenden zu bewahren.

Es ist nicht erste Aktion, mit der der Bundespräsident die Trauer um die Opfer der Corona-Pandemie in den Mittelpunkt rückt. Im Januar hatte Steinmeier dazu aufgerufen, ein Licht für verstorbene Angehörige ins Fenster zu stellen, um ihnen zu gedenken. Vergangenen Herbst sprach Steinmeier sich für eine zentrale Gedenkveranstaltung aus. Diese soll am 18. April in Berlin stattfinden.

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