Der Feind ist inzwischen überall. Man kann ihm auch auf dem eigenen Parteitag begegnen. Oder von ihm dort heimlich gefilmt werden. So wie das am vergangenen Wochenende Winfried Kretschmann passiert ist. Während sich die Grünen in Berlin öffentlich hinter der Parteispitze versammelten, wetterte Kretschmann im Zwiegespräch mit einem alten Freund gegen einen zentralen Beschluss des Parteitags.
Er attackierte das Ziel, die Neuzulassung von Verbrennungsmotoren nur noch bis 2030 zuzulassen. Er schimpfte über "Schwachsinns-Termine" und erklärte, bei solchen Beschlüssen werde er nicht mit in den Kampf ziehen: "Dann lasst mich in Ruhe und macht euren Wahlkampf selber!", betont Kretschmann in dem Mitschnitt. Sein Wutausbruch war erkennbar nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Öffentlich geworden ist er nun trotzdem, und zwar durch die heimliche Aufnahme eines rechtspopulistischen Nachrichtenportals namens Jouwatch.com.
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Damit stellen sich zwei Fragen: Darf man heimlich filmen? Und: Was bedeutet Kretschmanns erkennbare Wut für die Grünen?
So, wie es aussieht, hat ein den Grünen nicht wohl gesonnenes Nachrichtenportal auf deren Parteitag sehr zielstrebig darauf gewartet, Pannen, Fehler, Widersprüche zu entdecken. Und es hat dabei heimlich Filmaufnahmen gemacht. Heimlich deshalb, weil Kretschmann und Kollege nicht wussten, dass sie da aufgenommen würden. Das jedenfalls beteuern sie im Rückblick.
Moralisch einwandfrei also ist das Handeln der Filmchenmacher nicht; außerdem steht es außer Frage, dass es höchst problematisch wäre, wenn auf einem solchen Parteitag jeder in jeder Sekunde damit rechnen müsste, heimlich gefilmt und danach öffentlich aufgespießt zu werden. Es würde jede Freiheit nehmen, in Konflikten eine eigene Meinung zu artikulieren, obwohl man im Grundsatz der Gemeinschaft folgen wird. Ein Parteitag mit tausend heimlichen Kameras wäre das Ende einer Debattenfreiheit, wie sie die Demokratie ausmacht.
Gleichwohl muss sich Kretschmann fragen, ob er von Gegnerbeobachtung und Negativ-Kampagnen noch nie etwas gehört hat. Ersteres gibt es in Deutschland schon lange; Letzteres droht auch hierzulande, spätestens seit die AfD mit ihrer Aggression mit dabei ist. Deshalb gehört eine Portion Naivität schon dazu, angesichts der bekannten Nöte der Parteispitze derart heftig vom Leder zu ziehen. Kretschmanns Wut ist echt; für die Grünen ist das bitter.
Zumal sie ausgerechnet an diesem Freitag wieder einen Hauch von Hoffnung haben könnten, das Tal der vergangenen Wochen zu verlassen. Die erste Umfrage, die nach ihrem Parteitag gemacht wurde, signalisiert einen kleinen Aufwärtstrend. Beim Politbarometer klettern sie von sieben auf acht Prozent. Und was vielleicht noch wichtiger ist: Sie liegen nicht mehr hinter der FDP, sie liegen vor der AfD, und die Linke liegt genau einen Prozentpunkt vorne. Alles noch machbar, könnten sie sich sagen.
Ob es dabei bleibt, steht in den Sternen. Denn jetzt kann jeder, Freund wie Feind, im Netz nachschauen, was Kretschmann eigentlich über den Beschluss denkt. "Schwachsinn" ist dabei keine schöne Vokabel. Und dagegen wird es politisch wenig nützen, die Heimlichkeit zu beklagen. Entsprechend rege war am Donnerstagnachmittag der Austausch zwischen Berlin und Stuttgart.
Helfen soll nun, das wurde abgesprochen, dass Kretschmann nicht nur die Heimlichkeit der Aufnahme beklagt, sondern angekündigt hat, dass er trotz seiner Kritik mit den Grünen in den Wahlkampf ziehen werde. Außerdem kämpfen Berlin und Stuttgart gegen die Folgen des Videos an, indem beide betonen, dass Kretschmanns Kritik an der Jahreszahl bekannt sei, man im Grundsatz und über allem Zwist aber selbstverständlich das Ziel verfolge, baldmöglichst den Umstieg hin zu einer "emissionsfreien Mobilität" zu erreichen. Das große Ziel soll die große Wut besiegen - ob das gutgeht, weiß keiner.
Klar ist allen Beteiligten nur eines: Dieses Mal geht es nicht um einen Streit, in dem alle Grüne irgendwie verstrickt sind. Dieses Mal geht es um Kretschmann gegen den Rest der Partei. Deswegen wird es an ihm liegen, wie groß der Schaden für die Partei sein wird.