Ungarn:Budapest gegen Viktor Orbàn

Lesezeit: 4 min

Budapests Bürgermeister Gergely Karácsony, hier bei einem Auftritt in der Stadt 2021. (Foto: Bela Szandelszky/AP)

Die ungarische Hauptstadt sei fast pleite, sagt der Bürgermeister. Schuld trage der Staat: Budapest werde finanziell ausgeblutet, damit die Regierung der Opposition Unfähigkeit vorwerfen könne.

Von Cathrin Kahlweit, Budapest

Vor anderthalb Jahren noch war Gergely Karácsony wild entschlossen, den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán persönlich herauszufordern; er wolle, kündigte er an, Spitzenkandidat der vereinten Opposition bei der Parlamentswahl 2022 werden, "weil ich am geeignetsten bin, eine Brücke von den Oppositionswählern zu den noch unentschlossenen Wählern zu bauen". Es kam dann ganz anders.

Karácsony blieb, was er seit 2019 ist: Bürgermeister von Budapest, der einzigen Metropole des Neun-Millionen-Einwohner-Landes. Der auch mit 47 Jahren noch jungenhaft wirkende, großgewachsene Intellektuelle zog aufgrund mangelnder landesweiter Unterstützung seine Kandidatur zurück. Statt des Budapester Grünen trat der konservative Provinzpolitiker Péter Márki-Zay im Namen von sechs Parteien gegen Orbán an, verlor im April 2022 krachend - und verschwand in der Versenkung.

Jetzt hat der Budapester einen neuen Anlauf gestartet; diesmal geht er die Regierungspartei Fidesz frontal an, die im Land mit ihrer Zweidrittelmehrheit durchregiert: Stadt gegen Staat. Er sei kein Oppositionsführer für das ganze Land, sagt Karácsony bei einem Treffen in seinem Büro am vergangenen Freitag im eleganten 5. Bezirk, aber er wolle weiterhin das Gesicht der Opposition gegen Orbán in Budapest bleiben. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger.

Die Stadt hat ein "Überlebens-Paket" aufgelegt und will die Steuerbehörde verklagen

Die neue Kampagne startete mit einer Pressekonferenz vor knapp vier Wochen. Fidesz fahre ein "Anti-Budapest"-Programm, klagte der Bürgermeister, und blute die Hauptstadt gezielt finanziell aus. Wenn das so weitergehe, sei Budapest im August pleite; die Stadt müsse ein "Überlebenspaket" schnüren, hohe Kredite aufnehmen, Investitionen verschieben. Was am meisten Schlagzeilen machte: Die Stadt will die staatliche Steuerbehörde NAV verklagen, weil Budapest als Nettozahler zu viel in den kommunalen Finanzausgleich zahlen müsse. "Solidaritätssteuer" heißt dieser in Ungarn euphemistisch, aber, so Karácsony, solidarisch sei Fidesz nur gegenüber den eigenen Leuten: Während die Stadt unter seinem Vorgänger, einem Fidesz-Politiker, nur fünf Milliarden Forint (13 Millionen Euro) pro Jahr an den Staat habe abführen müssen, seien es mittlerweile 58 Milliarden (153 Millionen), mithin das Zwölffache. Die Stadt will einen Teil der geforderten Steuer nicht zahlen.

Die Regierung kontert mit dem Vorwurf der Misswirtschaft und Verschwendung. Der grüne Bürgermeister habe solide Finanzen von seinem Fidesz-Vorgänger übernommen. Laut Finanzminister Mihály Varga habe die Stadt heute insgesamt sogar 344 Millionen Euro mehr zur Verfügung als vor vier Jahren. Budapest werde seit 2019 von einem Geldverschwender regiert.

Alle Nachrichten im Überblick
:SZ am Morgen & Abend Newsletter

Alle Meldungen zur aktuellen Situation in der Ukraine und weltweit - im SZ am Morgen und SZ am Abend. Unser Nachrichten-Newsletter bringt Sie zweimal täglich auf den neuesten Stand. Hier kostenlos anmelden.

Es ist eine Schlacht um Zahlen und Fakten, um Inflationsraten, Bruttosozialprodukt, Steuergesetze, Investitionszusagen, Subventionen. Laut aktuellen Umfragen hat Karácsony die Mehrheit der Bürger grundsätzlich auf seiner Seite: 73 Prozent aller Befragten, darunter immerhin auch 51 Prozent Fidesz-Wähler, glauben laut einer aktuellen Umfrage des Medián-Instituts, die Lage der Stadt werde dadurch verschlimmert, dass diese von einem Gegner Orbáns regiert wird. Und 57 Prozent sind, alles in allem, mit seiner Arbeit zufrieden.

Der Hintergrund des Finanzstreits ist ein politischer: 2019 hat die Opposition nicht nur in Budapest, sondern auch in anderen ungarischen Städten die Lokalwahlen gewonnen. Fidesz, so Karácsony, habe seither "ein grundlegendes Interesse daran, zu beweisen, dass die Opposition da, wo sie regiert, unfähig ist. Deshalb macht man uns das Leben schwer, wo es geht". Tatsächlich klagen Dutzende Kommunen, die von Oppositionspolitikern regiert werden, Fidesz habe, etwa durch die zeitweilige Senkung der Gewerbesteuer, die Einnahmen der Städte massiv reduziert, gebe aber umgekehrt Subventionen und Hilfsgelder, etwa für die Bewältigung der Pandemie oder gestiegene Energiekosten, bevorzugt an Fidesz-geführte Kommunen weiter.

Die Kettenbrücke über die Donau in Budapest: Zugesagte Investitionsmittel für ihre Renovierung seien bis heute nicht ausbezahlt, klagt die Opposition. (Foto: Ursula Düren/dpa)

Es ist eine Dauerfehde zwischen Städten und Regierung. Aber Budapest, sagt Karácsony, trage eine besonders hohe Last: "Was unsere Einnahmen angeht, sind wir 2022 nominal auf dem Level von 2019 - in einem Land, das die höchste Inflationsrate in der EU hat. Letztlich sind die Einnahmen der Stadt aber um etwa 25 Prozent gesunken." Zugesagte Investitionsmittel, etwa für die Renovierung der U-Bahn oder die Kettenbrücke im Stadtzentrum, seien bis heute nicht ausbezahlt. Der frühere Budapester Bürgermeister István Tarlós zieht die Zahlen seines Nachfolgers generell infrage und zeiht ihn der "Lüge". Die Regierung sagt, sie halte Gelder zurück, weil die Kettenbrücke keine Autospur bekommt.

Der Bürgermeister ist im Geiste ein Akademiker geblieben: ernsthaft und mäßig charismatisch

Karácsony hat eine lange Karriere nicht nur als Lokal-, sondern auch als Parteipolitiker hinter sich. Er fing bei der grünen LMP an und gründete 2013 mit ein paar LMP-Aussteigern Párbeszéd (Dialog). Seine Wahl zum Bürgermeister der Metropole verdankt er einer Kooperation von Oppositionsparteien. Er ist im Geiste ein Akademiker geblieben; analytisch, ernsthaft, freundlich, mäßig charismatisch. Und desillusioniert. "Die Opposition", sagt er auf die Frage, warum der Wahlkampf gegen den versierten Machtpolitiker Orbán so kläglich scheiterte, "konnte sich nur auf die Themen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einigen. Aber damit gewinnt man keine Wahlen." Die ungarische Gesellschaft wolle Stabilität und Sicherheit, und die Regierung habe erfolgreich behauptet, sie könne das liefern.

Orbán aktiviere mit seiner rechtspopulistischen Politik permanent den "moralischen Panik-Knopf der Gesellschaft"; seit dem Krieg gegen die Ukraine habe das noch zugenommen. Korruption sei zwar, so der Budapester, ein integraler Teil des Fidesz-Systems. Aber der Kern "ist die Verdrehung von Fakten, fehlende Wahrheiten, ein Mangel an Gerechtigkeit und Fairness".

2024 stehen erneut Lokalwahlen in Ungarn an - sowie die Wahlen zum Europaparlament. Die ungarische Regierung hat beide Urnengänge auf einen Tag gelegt. Karacsony sieht darin einen Trick von Fidesz, "wie so oft das Wahlrecht im eigenen Interesse zu ändern". Fidesz drohten bei den anstehenden Lokalwahlen Einbußen, die Inflation sei zu hoch, die wirtschaftliche Lage zu volatil. "Deshalb brauchen sie zugleich die EU-Wahl und ihr Anti-Brüssel-Narrativ, um die Wähler auf ihre Seite zu ziehen."

Die Regierung halte sich mit einem "Anti-Brüssel-Narrativ" an der Macht, klagt die Opposition

Das "Anti-Brüssel-Narrativ" dürfte in den kommenden Tagen noch einmal neue Nahrung bekommen. Der Haushaltskontrollausschuss des EU-Parlaments bereist Ungarn auf einer "Factfinding-Mission", um zu überprüfen, ob die Regierung ihre "Hausaufgaben gemacht hat", wie es der grüne Europa-Parlamentarier und Ungarn-Experte Daniel Freund sagt. Wegen des stetigen Abbaus von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hat Brüssel etwa 30 Milliarden Euro aus Strukturfonds und Corona-Hilfsgeldern eingefroren.

27 "Supermeilensteine", die unter anderem die Justiz, die LGBTQ-Gesetze und Minderheitenschutz, das Asylrecht und demokratische Teilhabe betreffen, müsse Orbán erfüllen, so Freund am Telefon in Brüssel, um die Freigabe aller Gelder zu bewirken. Ob Teilreformen für eine Freigabe von Teilen der Mittel ausreichen, ist zwischen Parlament und EU-Kommission streitig. Das ungarische Parlament hat vor zwei Wochen eine Justizreform vorgelegt, die - nach Ansicht der Fidesz-Regierung - den Weg für die Auszahlung von zumindest 13,2 Milliarden Euro aus EU-Kohäsionsfonds frei mache. Freund findet das "schwer vorstellbar".

Ein Besuch beim Budapester Bürgermeister steht auch auf dem Programm der Parlamentarier. Gerely Karácsony will ihnen sagen, dass es "weniger Korruptionsrisiken gibt, wenn die EU-Gelder direkt an die Kommunen gehen. Das wäre ein effektives Mittel gegen Rechtsstaatsverstöße". Das System Orbán, das wisse jeder, werde mit genau diesen Geldern finanziert. "Aber dafür müsste EU-Recht geändert werden. Und das ist ein langer Weg."

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusKognitionswissenschaften
:Psychologie der Spaltung

Nicht die Suche nach Wahrheit treibt Menschen an, sondern das Bedürfnis, dazuzugehören. Gesellschaftliche Polarisierung ist damit programmiert. Was hilft?

Von Sebastian Herrmann

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: