Brüssel:Dem Chef geht die Geduld aus

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"Eine enorme Glaubwürdigkeitskrise" sieht EU-Kommissions-Chef Jean-Claude Juncker voraus, falls Beschlossenes nicht umgesetzt werde. (Foto: Olivier Hoslet/dpa)

EU-Kommissionspräsident Juncker hat es satt: Alles, was in der Flüchtlingskrise nicht klappt, werde der EU und seiner Behörde angekreidet.

Von Daniel Brössler und Alexander Mühlauer, Brüssel

Es heißt ja, Angriff sei die beste Verteidigung. Jean-Claude Juncker, der Präsident der EU-Kommission, steht im Pressesaal seiner Behörde und erklärt bestimmt, aber bedächtig, die Krisen Europas. Zumeist ganz ruhig, fast gelassen. Bis er auf Italien zu sprechen kommt. Da geht der Kommissionspräsident plötzlich zur Attacke über.

Es ist nicht so, dass Juncker etwas gegen dieses wunderbare Land hätte. "Ich könnte sogar eine großartige Liebeserklärung an Italien abgeben", sagt er. Nur: "Der italienische Ministerpräsident, den ich sehr mag, nutzt jede Gelegenheit, um die Kommission zu kritisieren." Und das will Juncker nicht auf sich sitzen lassen. Seine Behörde habe angesichts der schlechten Haushaltszahlen aus Rom große Flexibilität gezeigt. Doch was ist Renzis Dank? Er behaupte im römischen Parlament, es sei seine Idee gewesen; er habe die Kommission dazu gebracht, endlich flexibler zu sein. Da wird Juncker auf einmal laut: "Ich habe die Flexibilität eingeführt, nicht er. Mit seiner Zustimmung, okay. Aber ich war es."

Ende Februar will der Kommissionspräsident nach Rom reisen. "Ich muss das Ding mit den Italienern regeln", sagt Juncker. Das Ding? Immer wieder zeigt Italien auf europäischer Bühne Widerstand. Bei der Frage der Russland-Sanktionen war es zunächst so. Jetzt ist es wieder soweit: Seit Wochen sperrt sich die Regierung in Rom gegen den Vorschlag der EU-Kommission, wie die drei Milliarden Euro Flüchtlingshilfe an die Türkei organisiert werden sollen. Juncker hat vorgeschlagen, eine Milliarde Euro aus dem EU-Haushalt zu nehmen. Weitere zwei Milliarden Euro sollen nach einem auf Wirtschaftskraft basierenden Schlüssel aus den Mitgliedstaaten kommen. Renzi will, dass das Geld vollständig aus dem EU-Haushalt kommt. Doch warum? "Ich kann mir das nicht vollumfänglich erklären", sagt Juncker. Das Geld sei ja nicht für die Türkei, sondern für syrische Flüchtlinge. Auch beim Treffen der EU-Finanzminister an diesem Freitag gab es in dieser Frage keine Einigung.

"Ohne Schengen, ohne Reisefreiheit macht der Euro keinen Sinn"

Überhaupt ist Juncker es, wie er sagt, "langsam leid, dass man immer die Europäische Kommission und die Europäische Union dafür kritisiert, dass nicht genug getan worden wäre". Unbestreitbar ist zwar, dass die EU als Ganzes beim Management der Flüchtlingskrise kaum einen Schritt voran gekommen ist. Nur die Schuld daran will Juncker keine Minute länger seiner Behörde anlasten lassen. "Die Kommission hat alles gemacht in schwierigstem Umfeld. Aber einige Mitgliedstaaten tun sich schwer, das umzusetzen, was sie auch als Gesetzgeber im Ministerrat beschlossen haben", klagt er. Juncker spielt vor allem auf die östlichen Mitglieder an, die kaum oder gar nicht bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen. Die Slowakei etwa hat ausdrücklich erklärt, keine muslimischen Flüchtlinge aufnehmen zu wollen und klagt vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die beschlossene EU-weite verbindliche Verteilung von 120 000 Flüchtlingen.

"Wir steuern auf eine enorme Glaubwürdigkeitskrise zu, wenn es uns nicht gelingt, im Laufe des Jahres 2016 das zu tun, was wir prinzipiell und auch juristisch, politisch beschlossen haben", warnt Juncker. Insgesamt war die Verteilung von 160 000 Flüchtlingen aus Italien und Griechenland beschlossen worden. Tatsächlich verteilt wurden bislang: 272. Er werde dennoch nicht aufgeben, kündigt Juncker an - fast trotzig.

In seiner Argumentation wird er dabei in zweierlei Hinsicht grundsätzlich. Zum einen hält er das Bild, das die EU in der Krise abgibt, im globalen Maßstab für eine Schande. Partnern wie dem König von Jordanien müsse er erklären, "wieso und weshalb es dem reichsten Kontinent der Erde nicht gelingt, den Flüchtlingsstrom, der sich auf uns zubewegt und weiter zubewegen wird, in den Griff zu kriegen". Er erröte "nicht nur leicht, wenn die Gesprächspartner darauf hinweisen, dass die Probleme in ihrem Land doch eigentlich viel gravierender" seien. Und dann rechnet Juncker vor: Wenn die EU im Verhältnis so vielen Flüchtlingen Obdach gewähren wollte wie Jordaniern oder Libanon, "dann müssten wir 100 Millionen Flüchtlinge aufnehmen". Die EU solle sich daher lieber damit zurückhalten, anderen Lektionen zu erteilen.

Junckers zweites Argument gilt der Zukunft der Union. Er sieht Schengen, den Raum grenzenlosen Reisens, in Gefahr. "Ohne Schengen, ohne die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, ohne Reisefreiheit, von der alle Europäer profitieren können, macht der Euro keinen Sinn", warnt er. Auch der Binnenmarkt werde beschädigt. Schon jetzt sei der Preis hoch. Die Kosten für die wiedereingeführten Kontrollen an der Öresund-Brücke zwischen Schweden und Dänemark beziffert Juncker auf 300 Millionen Euro. Europaweit würden die Wartezeiten von Lastwagen bereits jetzt wieder drei Milliarden Euro verschlingen.

Aber auch für die Flüchtlinge hat Juncker eine Botschaft: Sie könnten nicht einfach in "selbstherrlicher Selbstbestimmung" festlegen, wo sie leben möchten. "Das geht nicht. Das geht absolut nicht."

© SZ vom 16.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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