Das Museum der Kindheit steht wie ein Fremdkörper mitten in Bethnal Green. Drumherum Secondhand-Läden, Kleidermärkte, jugendliche Dealer in einem nahen Park. Frauen in schief gelaufenen Schuhen stehen im strömenden Regen Schlange an einer Bushaltestelle. Durch die Ausstellung rennen kreischende Schüler mit gelben Warnwesten, damit sie in der restaurierten Industriehalle und draußen im Überlebenskampf auf Londons Straßen nicht verloren gehen. In den Vitrinen: Festtagskleider aus dem 19. Jahrhundert, Samtkrägen und Rüschen, Puppenhäuser mit echten Zinntellern, Stubenwagen mit handbestickten Überwürfen. So schön, so wertvoll konnte Kindheit sein.
Charles Dickens hat die andere Seite der Kindheit in London beschrieben; 1837 kam "Oliver Twist" heraus, die Geschichte jenes elternlosen, ewig hungrigen, verwahrlosten Jungen, dessen Kindheit sich zwischen Armenhäusern und Spelunken abspielte, und dessen Schicksal die bessere Gesellschaft damals schockierte. Viele Leser waren nie in Gegenden wie dem Old Nichol Slum in Ost-London gewesen, wo hungernde Waisen in kalten Fabriken Kinderarbeit verrichteten und Großfamilien in feuchten Verschlägen hausten. Bis vor Kurzem gab es auch dafür ein Museum östlich der Hauptstadt: "Dickens World" hieß es.
Die Gruselschau ist mittlerweile geschlossen. Die Kinderarmut, das Elend, die Not der Unterschicht, die der Autor schilderte - all das ist geblieben. Sie sieht jetzt anders aus. Aber ist spürbar, messbar. Und sie wächst.
400 000 Kinder mehr als vor vier Jahren leben in Familien mit Einkommen unter 15 000 Pfund
In Bethnal Green, einem Stadtbezirk mit überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit und vielen Sozialwohnungen, kann man sie sehen, riechen, schmecken. Deutsche Bomben hatten einst große Teile des alten Hausbestands zerstört, Wohntürme wuchsen aus dem Schutt. Obwohl die Gentrifizierung auch im Ostteil der Metropole mit Macht einsetzt, liegt die Wahrscheinlichkeit für ein Kind, hier in Armut aufzuwachsen, bei mehr als 50 Prozent.
Eine Untersuchung der Kampagne "End Child Poverty", in der sich mehr als hundert Wohlfahrtsorganisationen, Gewerkschaften und Vereine zusammengetan haben, hat jetzt Zahlen veröffentlicht, die ein Scheitern der Politik belegen: In Großstädten wie London, Birmingham und Manchester mit ihren hohen Mietpreisen, aber mehr noch im deindustrialisierten, abgehängten Norden, in Wales, in Nordirland, wächst die Armut und damit auch die Kinderarmut - wieder. Unter Labour war sie gefallen, worauf Linken-Chef Jeremy Corbyn heute sehr gern verweist.
In 25 Wahlkreisen des Königreichs leben derzeit fast 40 Prozent aller Kinder unter der Armutsgrenze, hat "End Child Poverty" ausgerechnet, das sind 400 000 mehr als vor vier Jahren. Besonders dort, wo die Not ohnehin schon groß ist, werde es immer noch schlimmer, allen Bemühungen von Stiftungen, Kirchen und Vereinen zum Trotz. Als arm werden Kinder in Großbritannien dann gewertet, wenn sie in Familien mit einem Jahreseinkommen von weniger als 15 000 Pfund (ca. 17 000 Euro) leben.
Die Studie bestätigt damit das Institute for Fiscal Studies. Das hatte im vergangenen Herbst konstatiert, wenn es so weitergehe, würden allein bis 2022 weitere 400 000 Kinder in absoluter Armut leben, das sei eine Steigerungsrate von vier Prozent. Alle Fortschritte der vergangenen 20 Jahre auf dem Gebiet der Armutsbekämpfung würden derzeit zunichte gemacht. Die drastische Sparpolitik der vergangenen Jahre, die Schließung von Sozialstationen, die Kürzung von staatlichen Hilfsprogrammen, eine familienfeindliche Steuerpolitik - all das mache Kinder zu Opfern.
Die Tory-Regierung hatte 2015, noch unter Finanzminister George Osborne, die Sozialausgaben um zwölf Milliarden Pfund gekürzt. Jugendclubs, Kindergärten, Nachmittagsbetreuung: In manchen Regionen wurde die Hälfte aller Einrichtungen wegen Geldmangels geschlossen. Dabei hatte Premierministerin Theresa May bei ihrem Amtsantritt eine "mitfühlende Tory-Partei" versprochen. Nun betonte ein Regierungssprecher in Reaktion auf die alarmierenden Zahlen zwar, man unterstütze Familien, schränkte aber ein, man wolle eben das "Wohlfahrtssystem fair für jene gestalten, die es bezahlen, und fair für jene, die davon profitieren".
Zahlen sind Zahlen. Sie erklären, sie atmen jedoch nicht. "Sex und Brexit faszinieren uns", kritisiert der Guardian, "aber die Armut, die sich in den jüngsten Studien zeigt, halten wir für normal." Irene Hayes tut das nicht. Sie ist die Frau des Pastors der Methodisten-Kirche in Bethnal Green und kümmert sich um die vielen einsamen, armen und alten Menschen im Haus. Freiwillige geben in einer Lebensmitteltafel im Anbau neben der Kirche Obst und Gemüse aus; Tarik, 25, übt mit arbeitslosen Müttern den Umgang mit Computern. "Die Reform der Sozialhilfe ist das ganze, traurige Geheimnis", sagt Irene Hayes. "Seither sehen wir immer mehr Kinder, deren Familien ihr Essen, ihre Stromrechnungen nicht mehr zahlen können."
Die Regierung hatte 2016 die Benefit Cap, eine Deckelung der Sozialhilfe, verschärft, die vor allem Familien mit Kindern schlechterstellt. Paare oder Alleinerziehende erhalten zum Beispiel in London nur noch 442 Pfund pro Woche, Kinderlose nur noch 296 Pfund. Vorher lagen die Summen bei 500 beziehungsweise 350 Pfund. Der größte Haken an der Deckelung: Die Zahl der Kinder ist dabei kaum relevant; eine Familie mit fünf Kindern erreicht die Sozialhilfedeckelung fast ebenso schnell wie eine Familie mit zwei Kindern.
Auch die Zahl der jungen Obdachlosen steige deshalb, fügt Pastor John Hayes in seiner Methodistenkirche hinzu: "Man muss sie nicht mal suchen, sie gehören hier mittlerweile zum Alltag." Ein paar Straßen weiter, in der Whitechapel Mission, landen viele Jugendliche, deren Familien aus ihren Wohnungen geworfen wurden, weil sie die irren Mieten in London nicht mehr zahlen konnten. Auch dazu gibt es neue, erschütternde Zahlen: 15 Prozent mehr Menschen lebten 2017 auf der Straße als noch im Jahr zuvor.
Vor ein paar Wochen ist das gesamte "Social Mobility Team" der Regierung zurückgetreten, ein Beratungsgremium für soziale Gerechtigkeit. Das Argument des frustrierten Ex-Vorsitzenden Alan Milburn: "Das Schlimmste in der Politik ist es anzukündigen, man werde etwas gegen soziale Ungleichheit tun. Und dann nichts zu tun."