Bundestagswahl:Briefwahlstimmen für die Tonne

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In Deutschland beträgt der Anteil der Briefwähler 28,6 Prozent. Hier eine Mitarbeiterin des Wahlteams in Bielefeld bei den jüngsten Kommunalwahlen in NRW. (Foto: Friso Gentsch/dpa)

In Deutschland ist die Briefwahl klar geregelt: Alle Stimmen, die nach Schließung der Wahllokale eingehen, werden nicht gewertet. Wie viele Stimmen dadurch verloren gehen, wird nicht erhoben. Es gibt aber Schätzungen.

Von Robert Roßmann, Berlin

Nach einer Woche Berichterstattung über die Präsidentschaftswahl in den USA dürfte es kaum noch einen geben, dem die Eigenheiten des dortigen Briefwahlsystems nicht geläufig sind. Zu sehr haben sie den Verlauf der Auszählung bestimmt. Dass Joe Biden der nächste Präsident wird, verdankt er vor allem den Briefwahlstimmen. Und dass es in einigen Bundesstaaten immer noch kein Endergebnis gibt, liegt ebenfalls an diesen Voten.

Deshalb ist die Frage naheliegend, ob Ähnliches auch in Deutschland passieren könnte. Im kommenden Jahr wird der nächste Bundestag gewählt. Derzeit kann niemand sagen, ob auch diese Abstimmung unter Pandemie-Bedingungen stattfinden muss - was den Anteil der Briefwähler deutlich erhöhen würde. Wird man dann auch hierzulande tagelang auf Ergebnisse warten müssen? Und wäre es auch in Deutschland möglich, dass sich der Ausgang derart dreht wie in den USA?

Bei den ersten beiden Bundestagswahlen gab es noch keine Briefwahl. Und danach blieb der Anteil derer, die sie nutzten, lange ziemlich klein. Bei der Wahl 1990 waren es nur 9,4 Prozent. Doch seitdem steigt der Wert kontinuierlich, 2017 waren es 28,6 Prozent. Dabei gab es gewaltige Unterschiede zwischen den Bundesländern. In Sachsen-Anhalt lag der Anteil der Briefwähler bei 17,9 Prozent, in Bayern bei 37,3 Prozent - und in München sogar bei 42,6 Prozent. Der Anteil der Briefwähler war also schon vor der Pandemie groß genug, um Wahlen zu entscheiden. Allerdings gibt es zwei bedeutende Unterschiede zu den USA.

Beim Bundeswahlleiter heißt es, man erhebe diese Zahl nicht. Auch die Landesbehörden können dazu nichts sagen

Der erste betrifft den Umgang mit den Stimmen. In einigen US-Bundesstaaten werden nicht nur die Briefwahlstimmen gewertet, die bei Schließung der Wahllokale eingegangen sind, sondern auch die, die nur den Poststempel des Wahltages tragen. Auch deshalb liegt aus einzelnen Bundesstaaten immer noch kein Endergebnis vor. In Deutschland ist derlei nicht möglich. Bundesweit ist vorgeschrieben, dass lediglich die Stimmen berücksichtigt werden dürfen, die am Wahlsonntag um 18 Uhr bereits eingegangen sind.

Es wäre deshalb interessant zu erfahren, wie viele Stimmen dadurch in Deutschland verloren gehen. Aber beim Bundeswahlleiter heißt es, man erhebe diese Zahl nicht und solle sich an die Landesbehörden wenden. Doch auch der bayerische Landeswahlleiter kann nicht weiterhelfen. Und die Geschäftsstelle der Berliner Landeswahlleiterin teilt einem mit: "Hierzu liegen uns leider keine Zahlen vor." Gegebenenfalls seien "die bezirklichen Wahlämter zu dem angesprochenen Sachverhalt auskunftsfähig".

Aber auch die Wahlleitung im Berliner Bezirk Mitte hat noch nicht einmal eine Schätzung parat. "Im Bezirk wird keine Statistik über Wahlbriefe geführt, die verspätet eingegangen sind und somit nicht zählen", heißt es dort. Dabei sind die nicht gewerteten Briefwahlstimmen der demokratische Preis dafür, dass sich die Auszählung nicht derart wie in den USA verzögern kann. Es wäre hilfreich, wenn man diesen Preis kennen würde, um einschätzen zu können, wie hoch er ist.

Einen Hinweis kann die Wahlleitung von Berlin-Mitte dann aber doch noch geben: Bei der Europawahl 2019 sei es in dem Bezirk "geschätzt um ca. 300 Wahlbriefe" gegangen. Berlin-Mitte hat gut 385 000 Einwohner, Deutschland gut 83 Millionen. Da kann man zumindest die Größenordnung ermessen, um die es bundesweit geht.

Brief- oder Urnenwahl? Bei der AfD ist der Unterschied besonders groß

Bleibt die Frage, wie stark die Briefwahlstimmen in Deutschland ein Ergebnis verändern können. In den USA unterschied sich das Verhalten der Briefwähler von dem der Urnenwähler erheblich. Das lag auch daran, dass Joe Biden und seine Demokraten explizit für die Briefwahl geworben, Donald Trump und seine Republikaner dagegen vor allem auf die angeblichen Risiken hingewiesen haben. In Deutschland gibt es derlei nicht. Bisher hat keine Partei das Wahlverfahren derart diskreditiert, wie es die Republikaner getan haben. Und die Unterschiede zwischen dem Brief- und dem Urnenwahlverhalten sind deutlich kleiner als in den USA.

Bei der letzten Bundestagswahl kam die CDU bei den Zweitstimmen an der Urne auf 26,3 und bei den Briefwählern auf 27,9 Prozent. Auch bei der SPD (21,0 zu 19,4 Prozent), den Grünen (8,7 zu 9,5), den Linken (9,7 zu 8,0) und der FDP (10,3 zu 12,0) waren die Unterschiede zwischen Urnen- und Briefwahlergebnis nicht annähernd so groß wie bei den Demokraten und den Republikanern in den USA. Die vergleichsweise große Differenz bei der CSU (bundesweit 8,5 Prozent bei den Brief- und 5,2 Prozent bei den Urnenwählern) lag vor allem an dem besonders hohen Briefwahlanteil in Bayern. Ein wirklicher Ausreißer ist dagegen die AfD. Sie holte an den Urnen 13,9 Prozent, kam bei den Briefwählern aber nur auf 9,6 Prozent. Und dieser Unterschied erinnert dann wieder an das Abschneiden von Donald Trump.

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