Bosnien-Herzegowina:Kampf mit harten Bandagen

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In Sarajevo legen Plakate dem Wahlvolk eine unüberschaubare Vielzahl seriös dreinblickender Gesichter nahe. Um Inhalte geht es nur selten. (Foto: Armin Durgut/Imago/Pixsell)

Vor den Wahlen am Sonntag schlagen die etablierten Parteien immer schrillere Töne an. Ein Zeichen von Nervosität, denn Ethnonationalismus und Korruption lassen das System bröckeln. Bürgerlich-liberale Kräfte hoffen auf Veränderung.

Von Tobias Zick, Sarajevo

Wer in Sarajevo aufgewachsen ist und seiner Heimatstadt bis heute die Treue hält, ist einiges gewohnt. Aber die Wahlkampfsprüche dieser Tage erschüttern auch abgehärtete Bürger. Die Ehefrau des Präsidentschaftskandidaten der bosnisch-muslimischen Traditionspartei SDA beschimpfte Anfang der Woche die Vertreter der liberalen Opposition als "die Verlierer mit blutunterlaufenen Augen". Sollten sie Erfolg haben, raunte Sebija Izetbegović, würden die Menschen wohl bald wieder in "Lagern" und "Massengräbern" enden.

"Ich bin eigentlich keiner von denen, die ans Auswandern denken", sagt Adnan Hidić. Der Kupferschmied betreibt in einer Altstadtgasse von Bosnien-Herzegowinas Hauptstadt einen Traditionsbetrieb, seit vielen Generationen in Familienhand. In letzter Zeit fällt es ihm schwerer, sich dem Trend zur Auswanderung entgegenzustemmen. Vor allem, weil seine Frau ihn immer öfter fragt: Warum gehen wir nicht auch? Was machen wir, wenn wieder Krieg kommt? In welcher Gesellschaft wachsen unsere Kinder hier eigentlich auf? "Es ist die Rhetorik der Politiker, die den Leuten Angst macht", sagt Hidić. Jedes Jahr verliert das Land mehr als zwei Prozent seiner Einwohner.

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Bosnien-Herzegowina wählt an diesem Sonntag. Von außen betrachtet ist es schon deshalb keine normale Wahl, weil das politische System extrem kompliziert ist. Die Menschen wählen die Mitglieder des dreiköpfigen Staatspräsidiums, das Parlament des Gesamtstaats und die jeweiligen Parlamente der beiden Teilrepubliken - bosnisch-kroatische "Föderation" und serbische Teilrepublik. Hinzu kommen noch innerhalb der Föderation die Parlamente der Kantone.

Plakate legen dem Wahlvolk eine unüberschaubare Vielzahl seriös dreinblickender Gesichter nahe, um Inhalte geht es nur selten. Die großen Probleme des Landes, die Massenabwanderung, die horrende Umweltverschmutzung und die Korruption bleiben so ungenannt wie die Lösungsideen. Statt dessen suggerieren schrill-nationalistische Töne wie jene der Kandidatengattin den Menschen, was ihnen drohe, wenn man ihre Partei nicht wählt: ein Schicksal als Opfer von Massenmord und Vertreibung wie in den 1990er Jahren.

Azra Zornić will eine Bürgerin ihres Landes sein - ohne ethnischen Stempel

"An solchen Aussagen sieht man, dass diese Politiker große Angst haben, die Wahl zu verlieren", sagt die Soziologin Azra Zornić. Die emeritierte Professorin sitzt in einem verrauchten Café, zu dessen Verrauchtheit sie kräftig beiträgt, die Haare frisch silbrig getönt, die Fingernägel fliederfarben lackiert. Die Grande Dame der bosnisch-herzegowinischen Bürgergesellschaft bekämpft seit vielen Jahren das ethnonationalistische Prinzip, das dem ganzen Staatsaufbau zugrunde liegt, festgeschrieben im Friedensabkommen von Dayton, das 1995 den Kriegszustand eher einfror als beendete.

Azra Zornić hat ihr Land vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verklagt, weil die Verfassung und das Wahlrecht all jene Menschen diskriminierten, die sich - wie sie selbst - nicht als Angehörige einer der drei "konstituierenden Nationen" bekennen. Sie will keine Bosniakin, keine Serbin oder Kroatin sein, sondern schlicht eine Bosnierin, eine Bürgerin ihres Landes ohne ethnischen Stempel. Der Gerichtshof gab ihr 2014 recht, umgesetzt hat das Urteil bislang niemand.

Stattdessen gibt es immer wieder Versuche, das Wahlrecht innerhalb des bestehenden Systems ein bisschen anzupassen, und genau deshalb ist sie kürzlich wieder mehrmals auf die Straße gezogen, vor das Büro des Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft. Der ist so etwas wie ein gesetzlicher Betreuer, ein von den Dayton-Machern eingesetzter Aufpasser mit Vollmachten. Der Mann, der dieses Amt heute innehat, war mal deutscher Landwirtschaftsminister. Christian Schmidt, CSU, empfängt in einem schachtelartigen, sichtlich als Provisorium gedachten Gebäude. Auf dem Weg dorthin kommt man an vielen Fassaden vorüber, in denen noch heute die Einschusslöcher des Krieges klaffen.

"Es herrscht eine sehr große Erwartungshaltung an dieses Amt", sagt Schmidt. Er hat in diesen Tagen viele Termine mit Leuten aus der Zivilgesellschaft, die ihn dringend sprechen wollen. Manchen habe er gesagt: "Gehen Sie doch lieber rüber zum Parlament, da sitzen diejenigen, die die Verfassung ändern können. Ich darf das gar nicht." Statt auf revolutionäre Änderungen will Schmidt auf kleine Schritte setzen, auf die Bekämpfung von Wahlbetrug und mehr politische Teilhabe, etwa in Form von Volksbegehren und Volksentscheiden. "Ich hoffe, dass wir so Blockaden durchbrechen und eine politisch-gesellschaftliche Dynamik in Gang bringen können", sagt Schmidt.

Viele Bürgerinnen und Bürger haben sich längst vom politischen System abgewandt

Mehr Dynamik als ihm lieb sein konnte, hatte der Repräsentant der internationalen Gemeinschaft im Sommer in Gang gebracht, als er eine Änderung im Wahlgesetz ankündigte: eine Dreiprozenthürde auf Kantonsebene, von der nach Ansicht von Kritikern wie Azra Zornić vor allem kroatische Nationalisten profitiert hätten. Den Vorwurf, er habe sich einseitig aus Zagreb beeinflussen lassen, weist Schmidt zurück: Natürlich müsse man mit den Nachbarländern reden, und zwar nicht nur mit Kroatien. "Ich bin auch schon unter Beschuss genommen worden, weil ich mich mit Serbiens Präsident Vučić intensiv ausgetauscht habe." Von der Dreiprozentregelung ist er trotzdem abgerückt. Er habe nicht während des Wahlkampfes noch zusätzlich Emotionen im Land schüren wollen, sagt er.

Bosnien-Repräsentant Schmidt
:"Unsinn, völliger Unsinn"

Christian Schmidt, CSU-Mitglied und ehemaliger Bundeslandwirtschaftsminister, arbeitet mittlerweile in Osteuropa. Nun macht er mit einem Wutausbruch über dortige Politiker Schlagzeilen.

Unterdessen haben sich viele Bürgerinnen und Bürger längst vom politischen System abgewandt. "Am Ende ist es doch egal, ob Marko oder Janko oder sonst wer regiert", sagt eine junge Mutter, die auf einer Parkbank in Ost-Sarajevo sitzt. Die Gegend gehört zur serbischen Teilrepublik des Landes. Neben den Rutschen und Klettergerüsten erhebt sich in der Mitte des Parks eine Bronzestatue von Gavrilo Princip, des serbischen Nationalisten, der 1914 ein paar Kilometer von hier im Zentrum Sarajevos den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand erschoss und damit den Ersten Weltkrieg auslöste.

Die junge Mutter heißt Jelena Radanović, sie sei Polizistin, sagt sie, während sie ihrer sechsmonatigen Tochter einen Löffel Brei in den Mund schiebt. Auch sie berichtet, dass viele in ihrer Generation auswandern wollten oder schon weg seien. "Aber am Ende flüchten die Leute vor allem vor sich selbst." Sie und ihr Mann hätten ein Einkommen, mit dem sie sich immerhin eine anständige Wohnung leisten könnten. "Wer arbeiten will, kann hier auch Arbeit finden", sagt sie. Und ihren Job bei der Polizei, darauf legt sie Wert, habe sie nicht durch Beziehungen, sondern durch Leistung bekommen.

Doch viele junge Menschen in Bosnien-Herzegowina machen andere Erfahrungen. "Das größte Problem ist nicht der Nationalismus, sondern die Korruption", sagt Damir Arnaut. Er war mal Botschafter in Australien, jetzt sitzt er für die liberale Partei "Naša stranka" (Unsere Partei) im Parlament und leitet dort die Antikorruptionskommission. Diese Woche hat die US-Regierung Sanktionen gegen eine hohe Staatsanwältin verhängt, basierend auf einem Report der Kommission, in dem der Bosniakin Verbindungen zum organisierten Verbrechen nachgewiesen werden. Zuvor waren bereits ein serbischer und ein kroatischer Staatsanwalt mit Sanktionen belegt worden.

"Ich glaube, der Zeitpunkt für eine Katharsis ist gekommen"

"Das mag Zufall sein", sagt Arnaut, "aber es zeigt, dass Korruption sich in diesem Land nicht auf eine ethnische Gruppe beschränkt." Aber die Tatsache, dass seine Kommission mit Mitgliedern von sechs Parteien unterschiedlicher ethnischer Hintergründe zu solch durchschlagenden Ergebnissen in der Lage sei, zeige auch: "Trotz der komplexen Dayton-Struktur kann man in diesem Land vieles erreichen. Wenn man will."

Einen neuen Wind meint auch die langgediente Bürgerrechtlerin Azra Zornic zu verspüren. Die Zeit der ethnonationalistischen Parteien gehe zu Ende, sagt sie. Man habe viele bisherige Nichtwähler mobilisieren können, es könnte überraschende Ergebnisse geben: "Ich glaube, der Zeitpunkt für eine Katharsis ist gekommen."

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