Berlin - Vor dem Präsidentschaftswechsel in den USA hat die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock ein stärkeres gemeinsames Engagement Europas in der Verteidigungspolitik gefordert: "Europa kreist seit Jahren um sich selbst, die Trump-Administration hat der Welt den Rücken zugekehrt. Die Lücke, die entstanden ist, füllen autoritäre Staaten", sagte Baerbock der Süddeutschen Zeitung. Wenn der Westen Staaten wie China, Russland oder der Türkei nicht das Feld überlassen wolle, müsse Europa seine "Friedensrolle" in der Welt wieder ernster nehmen.
In dem Interview skizzierte die Grünen-Chefin außen- und sicherheitspolitische Schwerpunkte ihrer Partei, die im Bundestagswahlkampf 2021 eine Rolle spielen werden und natürlich auch im Fall einer grünen Regierungsbeteiligung. Angesichts des bevorstehenden Einzugs des US-Demokraten Joe Biden ins Weiße Haus und des Endes der Ära Trump plädierte Baerbock dafür, die Zusammenarbeit mit den USA neu zu gestalten. Zum Streit um die Rüstungsausgaben - Deutschland liegt weit unter den mit der Nato vereinbarten zwei Prozent des Bruttoinlandproduktes, die voraussichtlich auch Biden einfordern wird -, sagte Baerbock: "Wir müssen erst über eine strategische Neuaufstellung sprechen, dann über die Ausgaben. Es muss auch um die Fähigkeiten der Nato und die konkrete Lastenverteilung gehen. Ein theoretisches Zwei-Prozent-Ziel hilft da nicht wirklich weiter."
Offen zeigte sich Annalena Baerbock dafür, über höhere Ausgaben für Verteidigung und Bundeswehr nachzudenken: "Es fehlen Nachtsichtgeräte zum Üben, von Flugstunden ganz zu schweigen. Wir müssen uns da ehrlich machen. Ja, in manchen Bereichen muss man mehr investieren, damit Gewehre schießen und Nachtsichtgeräte funktionieren", sagte die Grünen-Politikerin. Gleichzeitig werde aber auch viel Geld im Militärhaushalt "zum Fenster rausgeschmissen", nur weil Bundesländer wie Bayern mit neuen Rüstungsprojekten ihren Industriestandort stärken wollten.
Für den Fall einer grünen Regierungsbeteiligung kündigte die Grünen-Chefin Gespräche mit Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron an, auch über robuste europäische Militäreinsätze. "Einfach wird das nicht. Aber wir dürfen uns nicht wegducken", sagte sie. Europa müsse zwar mehr tun, eine Abkehr von den USA sei aber gerade jetzt das falsche Signal. Notwendig sei außenpolitisch außerdem mehr Entschlossenheit beim Gesundheitsschutz, in der Außen-Wirtschaftspolitik, im Kampf gegen Sicherheitsrisiken und die Klimakrise.
Baerbock zeigte sich zudem offen für ein neues transatlantisches Handelsabkommen. Das europäisch-amerikanische Freihandelsabkommen TTIP hatten die Grünen abgelehnt. Dabei bleibe es, sagte Baerbock. "Wir sollten Fehler nicht zweimal machen. Aber es besteht die Chance für einen Neustart in der Handelspolitik und für ein besseres Handelsabkommen." Der Freihandel müsse gerechter und klimafreundlicher werden. "Da müssen wir eng mit der neuen US-Regierung zusammenarbeiten", sagte sie.