Judenfeindlichkeit:Steinmeiers Auftrag: aufstehen!

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Eine Feierstunde ohne körperlich anwesendes Publikum: Frank-Walter Steinmeier in Köln. (Foto: Melanie Grande/Encanto)

1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland: Der Bundespräsident fordert in einem bemerkenswerten Festakt ein entschiedenes Eintreten gegen Antisemitismus.

Von Christian Wernicke, Düsseldorf

Es sind die letzten Sätze seiner Rede, es ist der entscheidende Moment. Frank-Walter Steinmeier steht im Gebetsraum der Kölner Synagoge, schaut auf die leeren Bänke, blickt in die Kamera. Jetzt, da er dem Land eine Art gesellschaftliche Staatsräson verkündet. "Die Bundesrepublik Deutschland ist nur vollkommen bei sich, wenn Juden sich hier vollkommen zu Hause fühlen", sagt der Präsident, "das zu gewährleisten, das ist Auftrag aus 1700 Jahren Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland."

Es bleibt still im Saal, niemand rührt sich. Wegen Corona fehlt diesem Festakt das Publikum, also brandet kein Beifall auf dafür, dass Steinmeier den Deutschen soeben eine fast historische Mission angetragen hat - die Pflicht, gegen jede Form des Antisemitismus aufzustehen. Kurz zuvor hat das Staatsoberhaupt von "dem unermesslichen Glück" gesprochen, dass nach dem Zivilisationsbruch der Schoah und der millionenfachen Ermordung europäischer Juden "heute wieder jüdisches Leben neu aufblüht" in Deutschland. Steinmeier dankt den Rückkehrern und den Zuwanderern - und formuliert seinen Auftrag: Als Präsident wünsche er sich "nicht nur ein klares Bekenntnis, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland ein Teil von uns sind, ein Teil unseres gemeinsamen Wir ..." Sondern? "Sondern dass wir denen entschieden entgegentreten, die das noch oder wieder infrage stellen."

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Es ist ein so merkwürdiger wie bemerkenswerter Festakt. In der Wirklichkeit nämlich hat die Feierstunde, die die ARD am späten Nachmittag dieses Sonntags versendete, nie stattgefunden. Die 60 Minuten wurden zusammengestückelt mit Videos aus Berlin, Düsseldorf oder Köln. Die Synagoge der Domstadt ist dabei der Fixpunkt: Vergangenen Dienstag flog Steinmeier für einige Stunden nach Köln, um seine kurze Rede hier aufzunehmen.

Jüdischer Alltag soll "sichtbar und erlebbar" werden

Denn hier in Köln, so lehren es die Archive, fing alles an. Anno 321, vor 1700 Jahren. Ein Edikt des römischen Kaisers Konstantin, datiert auf den 11. Dezember 321, gilt als ältestes Zeugnis jüdischen Lebens nördlich der Alpen. Darin weist der Kaiser die Stadtoberen seiner Colonia (Kolonie) an, den Juden Bürgerrechte zu gewähren und sie in die Curia - also die Stadtverwaltung - aufsteigen zu lassen. Auch in Köln gab es Pogrome, im 14. Jahrhundert etwa wurden Juden ermordet und vertrieben, weil sie schuld gewesen seien an der Pest. Nach 1939 wurde etwa die Hälfte der geschätzt 16 000 Kölner Juden in deutschem Namen deportiert und ermordet.

Es ist kein Jubiläum, das nun gefeiert wird. Das klänge, so hat es ein Sprecher des Kulturvereins 321-2021 formuliert, angesichts des deutschen Menschheitsverbrechens des Holocausts "zu sehr nach einem Jubelereignis". Deshalb also: "Festjahr." Mehr als tausend Veranstaltungen sind bundesweit geplant. Und dabei, so hat es der Mitinitiator Abraham Lehrer gesagt, als Synagogen-Vorstand zu Köln zugleich der Gastgeber am Sonntag, "wollen wir weniger auf die Schoah zeigen, sondern den Blick für die Zukunft weiten". Und schlicht jüdischen Alltag in Deutschland "sichtbar und erlebbar machen".

Das ist, per buntem Video, am Sonntag gleich mehrfach gelungen. Sogar mit Witz. "Jüdisch zu sein bedeutet für mich, immer wieder sagen zu müssen, was es bedeutet, jüdisch zu sein", sagt der Schauspieler Alexander Wertmann. Der 23-Jährige erzählt, wie eigenartig gehemmt ihm Bekannte regelmäßig gegenübertreten. Wertmanns Rat: Sprecht es einfach aus - "Frag, ob wir Juden sind!"

Ähnlich entkrampfend versucht auch die TV-Moderatorin Susan Sideropoulos, jüdisches Leben zu erklären. Der Schabbat sei für sie "eine Art Achtsamkeitsaufgabe", also der Tag, an dem sie mal nicht (oder nicht so häufig) ans Telefon geht. Doch Sideropoulus berichtet auch, wie "normal" es für sie längst sei, dass stets die Polizei vor ihrem Gotteshaus Wache schiebt. Oder wie sie 2019 nach dem versuchten Mordanschlag auf die Synagoge von Halle ihren Kindern erklären muss, "dass es da draußen Menschen gibt, die uns nicht mögen". Und doch breitet die 40-Jährige Frau strahlend ihre Arme aus, da sie sich wünscht, ihre Mitbürger sollten sich dem Judentum nicht immer nur über die Shoah und den Zweiten Weltkrieg nähern. Sondern? "Sondern dass ich da hingehe und sage: So sehen die Juden aus von heute."

"Wie lange kann man hier noch leben?"

Armin Laschet, der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, meint Ähnliches, wenn er per Grußwort das Ziel vorgibt, "jüdisches Leben in Deutschland endlich zu einer Selbstverständlichkeit" werden zu lassen. Noch ist das eben nicht so, wie auch Israels Staatspräsident Reuven Rivlin per Video beklagt: Rivlin preist zwar die "Wiederbelebung jüdischen Lebens" in Deutschland, aber zugleich mahnt er zu "Null-Toleranz gegen jegliche Form des Antisemitismus". Immer und überall: "Ob auf der Straße, in den Online-Medien oder in der Politik."

Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, baut dazu auch auf das Festjahr. Das solle Wissen verbreiten über die Vielfalt jüdischen Lebens: "Wenn Juden nicht länger als fremd empfunden werden", so Schuster, dann sei möglich, "dass manches Vorurteil endlich ein für alle Mal verschwindet". Wo man die Corona-Krise bewältige, könne man doch "die Bevölkerung auch stärker gegen Antisemitismus immunisieren."

Wunschdenken? Auch Präsident Steinmeier erwähnt in seinem Aufruf zum Aufstehen gegen jedweden Antisemitismus, was er aus Gesprächen mit jugendlichen Juden erfahren habe: Die wollten, so der Präsident, einfach "keine Fremden, keine anderen sein - sondern junge Menschen jüdischer Herkunft in einer vielfältigen, toleranten Gesellschaft, hier in Deutschland". Nur, das bleibt ein noch weiter Weg, wie der Rapper Ben Salomo per Festakt-Video bezeugt: Antisemitismus, so sagt er, "das betrifft Juden leider 24/7 in diesem Land." Und diese Angst werfe Fragen auf: "Wie lange noch, wie lange kann man hier noch leben?"

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