Über das Leben im "Islamischen Staat" wusste Oguz G. einst nur Gutes zu berichten. Er schlafe auf dem nackten Steinboden und wasche sich mit kaltem Wasser, meldete er in die niedersächsische Heimat. So gefalle es ihm auch.
Nun sitzt der 39-Jährige auf einem wackeligen Plastikstuhl in einem Gefängnis im Norden Syriens, die Augen blicken müde, die Füße stecken in billigen Sandalen. In Hildesheim war Oguz G. einmal eine echte Größe, enger Gefolgsmann des Islamisten-Predigers Abu Walaa, der sich derzeit in Celle vor dem Oberlandesgericht verantworten muss. Nun aber gibt sich Oguz G. ziemlich ernüchtert: "Ich dachte, es ging in die Freiheit, aber das ging halt total nach hinten los."
Auf seine Freiheit wird der Islamist wohl noch lange warten müssen. Bei den Kämpfen um Raqqa ergab er sich gemeinsam mit seiner Frau Marcia M. aus Salzgitter. Die 29-Jährige war bei einem Luftangriff zuvor verletzt worden. Seither sitzen beide in kurdischer Haft. Und zuhause wartet auf sie bereits der Generalbundesanwalt mit einem Haftbefehl.
Das Islamisten-Pärchen steht nach Informationen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR im Mittelpunkt einer bisher geheimgehaltenen Ermittlung, in der es um einen großen, in Deutschland geplanten Anschlag geht. Der mörderische Ehrgeiz der Terroristen, das erweist sich nun, kannte keine Grenzen. In Auftrag gegeben wurde die Attacke nach bisherigen Erkenntnissen direkt von der berüchtigten Abteilung "Externe Operationen" des IS, die auch hinter dem Blutbad in Paris im November 2015 und dem Anschlag in Brüssel im März 2016 stand. "Was deine Brüder in Belgien schafften, schaffst du auch", textete die IS-Propaganda auf das Bild eines brennenden Flughafens Köln-Bonn.
Drei Kommandos sollten demnach nach Deutschland einreisen
Bis heute bemühen sich deutsche Behörden herauszufinden, was der IS genau plante. Oguz G. und Marcia M. sind nicht nur Beschuldigte, sondern auch wertvolle Zeugen. Beide haben inzwischen bei Befragungen durch den Bundesnachrichtendienst umfangreiche Angaben gemacht, auch ein weiterer inhaftierter IS-Kämpfer gestand. So formt sich für die Ermittler nun ein Bild: Drei Kommandos sollten demnach nach Deutschland einreisen und an unterschiedlichen Plätzen zuschlagen. Eines der möglichen Ziele war offenbar ein Musikfestival in der Provinz. Oguz G. und seine Frau waren aufgefordert worden, bei dieser "Spezialmission" zu helfen.
Die Ermittlungen führen mitten hinein in das Jahr 2016, in dem Deutschland wie nie zuvor von Angriffen des IS betroffen war. Der schwerste von ihnen war der Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember des Jahres. Zwölf Menschen starben, als Anis Amri einen Sattelschlepper in eine Menschenmenge lenkte. Das Entsetzen war groß und doch befürchteten die deutschen Behörden damals, dass es noch schlimmer kommen könnte.
Grund hierfür war eine abgefangene Kommunikation: Bereits im Herbst 2016 hatte Marcia M. aus Syrien heraus einige alte Bekannte im norddeutschen Raum kontaktiert, der IS wollte Kämpfer nach Deutschland schleusen. Zur Tarnung wurden Frauen gesucht, die sie dort heiraten würden. Eine der kontaktierten Frauen allerdings arbeitete heimlich für das Bundesamt für Verfassungsschutz. Zum Schein behauptete sie, zur Heirat bereit zu sein. Von nun an konspirierte der "Islamische Staat", ohne es zu wissen, direkt mit den deutschen Behörden. "Wir haben sehr frühzeitig von den Anschlagsplanungen erfahren, so dass wir im Oktober des Jahres 2016 ein strafrechtliches Verfahren einleiten konnten", sagt Generalbundesanwalt Peter Frank.
Im November schickte Marcia M. eine weitere Nachricht: "Guck mal, es gibt Brüder, die jetzt kommen wollen." Von einem "Paket" war die Rede, und die IS-Frau schärfte der vermeintlichen Glaubensschwester ein, von nun an müsse ihr Handy immer eingeschaltet bleiben. "Das ist eine sehr, sehr wichtige Arbeit." Ende November gab es dann Probleme, das "Paket" sei hängen geblieben, schrieb M. Da hatte der Fall im "Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum" (GTAZ) in Berlin längst höchste Priorität: Wann würden die Terroristen kommen?
Kurz vor Weihnachten 2016 dann schlägt Amri zu, der Tunesier stand mit dem "Islamischen Staat" in Verbindung, aber war doch nach allen bisherigen Erkenntnissen ein Einzeltäter. Was also könnte dann erst ein an Waffen und Sprengstoff geschultes Kommando anrichten? "Wir wussten, dass nichts, aber auch gar nichts mehr schiefgehen darf," erinnert sich ein Beamter, der an den damaligen Diskussionen beteiligt war.
Im Januar 2017 meldete sich Marcia M. erneut, das Paket sei "gerade am Ballern". Offenbar kämpften die "Brüder", die für den Anschlag ausgesucht wurden, noch in Syrien. Die Kommunikation wurde immer weniger, riss schließlich ganz ab. Der Vormarsch einer internationalen Staatenkoalition auf die IS-Gebiete zeigte endlich Wirkung. Die IS-Terroristen gerieten unter Druck. Im GTAZ fragte man sich, was denn nun aus dem Plan geworden sei. Und ob der unter Druck geratene IS diesen überhaupt noch würde ausführen können. Der einst brisanteste Fall verlor zunächst an Bedeutung.
Jetzt, mit dem weitgehenden Zerfall des "Islamischen Staats", sind entscheidende Informationen hinzugekommen. Oguz G. und Marcia M. sind nur zwei von Hunderten Kämpfern, die sich ergeben haben. Sie alle sitzen nun in Gefangenenlagern und viele von ihnen reden. Der Bundesnachrichtendienst schickt regelmäßig Befragungsspezialisten dorthin. Von Oguz G., seiner Frau und einer dritten Person stammen inzwischen umfangreiche Angaben zu dem Plot.
Demnach habe die Abteilung "Externe Operationen" 2016 entschieden, dass es Deutschland nun einmal so richtig treffen solle. Die erste der drei Gruppen habe aus zwei Männern bestanden, die mit Hilfe von Haartransplantationen und einer Nasenoperation ihr Äußeres verändern sollten. Durch Nahrungsergänzungsmittel sollten sie an Gewicht zulegen. In Deutschland seien sie aber nie angekommen, tatsächlich nehmen die türkischen Behörden im Oktober 2016 zwei Männer fest, auf die eine solche Beschreibung passt. Dies ist offenbar das "hängen gebliebene" erste Paket, von dem Marcia M. in ihren Chats damals sprach.
Ein Name, der Sicherheitsbehörden bereits seit Jahren beschäftigt
Die zweite Zelle soll sich aus Männern rund um einen Deutschen mit dem Kampfnamen "Abu Qaaqa" zusammensetzen. Die Behörden vermuten, dass es sich bei ihm um Dominik W. handelt, der ebenso wie Oguz G. aus der Hildesheimer Szene stammt. W. wurde angeblich angewiesen, den Bart zu rasieren, Alkohol zu trinken und sich tätowieren zu lassen. Zur Tarnung, um nicht als religiöser Fundamentalist aufzufallen. Eine dritte Zelle habe aus zwei Kämpfern bestanden, deren Namen nicht bekannt sind.
In den Verhören fiel auch ein Name, der deutsche und amerikanische Sicherheitsbehörden bereits seit Jahren beschäftigt: Es geht um einen Europäer, Deckname "Abu Mussab al-Almani", der es in der Hierarchie der Geheimtruppe "Externe Operationen" weit nach oben gebracht haben soll. Lange Zeit hatten der Bundesnachrichtendienst und die CIA versucht, ihn zu identifizieren, der Name wurde immer wieder mit Plänen für Anschläge in Verbindung gebracht. Er war einer der wenigen Europäer, die im IS tatsächlich wichtige Positionen eingenommen haben.
Inzwischen sind die deutschen Sicherheitsbehörden weitgehend gewiss, dass es sich bei ihm um den Schweizer Staatsbürger Thomas C. handelt: blond, blaue Augen, groß gewachsen. Aufgewachsen ist er in der Schweiz, dann zog er nach Frankfurt. 2013 war er einer der ersten, der sich dem IS anschloss. Zunächst soll er Kämpfer ausgebildet, dann aber eine steile Karriere gemacht haben.
Stück für Stück wird in Karlsruhe und bei den beteiligten Behörden noch immer der Plot zusammengesetzt. Thomas C. und Dominik W. könnten bei den Kämpfen im Kalifat ums Leben gekommen sein. Sicher ist dies nicht. Und noch sind ohnehin nicht alle Beteiligten identifiziert, man fürchtet, dass einige von ihnen noch immer zur Tat bereit sein könnten. Der IS ist geschwächt. Aber nicht geschlagen.
Weder Staatsanwälte noch Polizisten konnten Oguz G., Marcia M. oder all die anderen nun einsitzenden Mitwisser bisher direkt zu den mörderischen Plänen des IS befragen. Mit Syrien gibt es keine Rechtshilfe. Oguz G. sagt, er wolle so schnell wie möglich wieder nach Hause und "dort auch mit den Sicherheitsbehörden kooperieren". Allerdings behauptet er, nur wenig zu wissen. Glaubensbrüder hätten nach Deutschland reisen sollen, "um sich irgendwo in die Luft zu jagen. Ich bin in diese Sache reingerutscht und mein Problem war, wie ich ohne blaues Auge da wieder rauskomme", sagt der Häftling, bevor ihn vermummte Sicherheitskräfte aus dem Raum führen. Das jedenfalls wird ihm wohl kaum gelingen.