So einfach kann man es sich machen: Hans-Georg Maaßen, der geschasste Chef des Bundesverfassungsschutzes, twittert morgens um 8.31 Uhr, nur Stunden nach dem Anschlag in Hanau: "Sozialistische Logik: Täter sind immer rechts, Opfer immer links. Man braucht sich nicht mehr mit Stalin, Mao, Pol Pot, Ulbricht ... auseinanderzusetzen ..." Später schiebt er nach, das sei doch gar nicht auf Hanau gemünzt gewesen.
Fakt ist, am Morgen nach dem Anschlag mit insgesamt elf Toten, gerichtet gegen drei Bars, beschäftigt sich der frühere Verfassungsschutzpräsident mit der Einordnung von Terroristen. Für Maaßen ist der Hintergrund des Täters von Hanau nicht in erster Linie rechtsradikal, sondern eine "Self-Made-Ideologie" mit allenfalls rechtsextremistischen "Versatzstücken".
Gewalttat in Hanau:Was wir wissen - was wir nicht wissen
Elf Tote in einer hessischen Stadt, der Generalbundesanwalt ermittelt: Alles Wichtige zur Gewalttat in Hanau im Überblick.
Kein echter Neonazi also. Die Frage ist nur: Was macht einen echten Neonazi aus? Muss er ein geschlossenes faschistisches Weltbild haben? Muss er die Rangabzeichen der SS kennen und den Wortlaut der NS-Rassengesetze? Oder muss er sich nur als Herrenmensch fühlen und die anderen, die Ausländer, die Andersdenkenden, zu Untermenschen degradieren wollen? Und sie am liebsten ausrotten wollen wie der Täter von Hanau, der eine ganze Liste von Ländern angelegt hatte, deren Bevölkerung "komplett vernichtet" gehöre: Marokko, Tunesien, Ägypten, Israel, Syrien, die komplette Arabische Halbinsel, die Türkei, Vietnam, Indien. Die Liste geht weiter, die halbe Welt soll sterben. "Und dies wäre erst die Grob-Säuberung", schrieb der Attentäter dazu.
Es ist ein altes Missverständnis, dass rechte Terroristen stramm organisiert sein müssen, militärisch trainiert und mit klarem ideologischem Überbau. So wie seinerzeit die linksextremistische Rote Armee Fraktion (RAF), die sich in Libanon von der PLO trainieren ließ und seitenlange Bekennerbriefe schrieb. Doch so funktioniert die Rechte nicht.
Behörden haben solche gewaltbereiten Rechtsradikalen lange als "Spinner" abgetan
Rechtsradikale Attentäter sind schon früher alleine losgezogen, haben sich als einsame Wölfe gefühlt. "Es ist Wolfszeit", schrieb 1981 der rechtsradikale Förster Heinz Lembke, der in seinen Waffendepots 50 Panzerfäuste hortete und 258 Handgranaten. Er erhängte sich lieber, als zu reden. Verfassungsschützer und Polizei haben solche gewaltbereiten Rechtsradikalen lange als nicht ernst zu nehmende "Spinner" abgetan, als "alte Unbelehrbare", als "Waffennarren".
Der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß erklärte 1979, man solle doch "Männer, die in einem mit Koppel geschlossenen Battledress" durch Frankens Wälder "spazieren gehen, in Ruhe lassen". Strauß meinte die rechtsradikale Wehrsportgruppe Hoffmann, deren Sympathisant Gundolf Köhler ein Jahr später eine Bombe auf dem Münchner Oktoberfest zündete: 13 Tote, 200 Verletzte. Auch Köhler wurde als Einzeltäter abgetan, als liebeskummergeplagter Sonderling.
Lange konnte sich die deutsche Gesellschaft der Illusion hingeben, das Problem habe sich bald biologisch gelöst. Die Anführer der DVU, der Republikaner, der NPD waren alte Männer, die sich wie Franz Schönhuber noch damit brüsteten, bei der Waffen-SS gewesen zu sein. Doch spätestens in den 1990er-Jahren formierten sich erst im Osten, dann auch im Westen gewaltbereite Gruppen, Kameradschaften, die in der immer radikaler werdenden NPD ihre politische Heimat fanden. Die NPD zog in die Landtage von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern ein. Die Politik schreckte auf, versuchte, die NPD zu verbieten, was nicht gelang. Die Rechtsradikalen setzten sich auf den Dörfern fest. In Vorpommern gibt es heute Handwerker, die nur "national gesinnten" Jugendlichen eine Lehrstelle anbieten, und Bauunternehmer, die mit germanischen Runen werben.
Wie stark die rechten Strukturen sind, hat man im Prozess gegen die Mörderbande des NSU gesehen. Zehn Morde haben die Szene nicht erschüttert. Da standen unauffällige Bürger, Sachbearbeiter, Unternehmer, Erzieherinnen als Zeugen vor Gericht und bildeten eine Phalanx des Schweigens. Auch die Hauptangeklagte Beate Zschäpe schwieg. Dennoch konnte der Prozess belegen, wie stark die Mörder des NSU von der Szene unterstützt wurden. Der NSU gilt dort mittlerweile als Vorbild, die Attentäter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt als Märtyrer.
Selbst rechte Polizisten beziehen sich auf den NSU, der auch eine Kollegin von ihnen ermordet hat. Nur ein paar Wochen nach dem Urteil wurden in einer Frankfurter Polizeiwache anlasslos die persönlichen Daten der Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız abgerufen. Kurz darauf erhielt die Anwältin das Fax eines "NSU 2.0", der mit dem Mord an ihrer Tochter drohte. Absender: Uwe Böhnhardt, der tote Terrorist. Die Anwältin hatte im NSU-Prozess eine Opferfamilie vertreten. Hessens Polizei geht davon aus, dass Beamte aus der Polizeiwache die Täter sind. Die schweigen.
Allein in Hessen wurden vergangenes Jahr 38 Ermittlungsverfahren gegen Polizisten wegen rechter Umtriebe geführt. In Schwerin wurde gerade ein früherer Scharfschütze der Polizei verurteilt, er hatte illegal 60 000 Schuss Munition gehortet. Ein Freund dieses Mannes, ein rechtsradikaler Anwalt, führte Todeslisten mit Lokalpolitikern, die es am Tag X zu eliminieren gelte. Ein Offizier der Bundeswehr hat sich eine zweite Identität als Flüchtling zugelegt und eine Waffe besorgt. Die Bundesanwaltschaft wirft ihm die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat vor, eines Attentats - als Asylbewerber getarnt auf Deutsche.
Es braucht keinen Führer, keinen Anführer mehr
Am vergangenen Freitag wurde eine Gruppe von zwölf Rechtsradikalen um den Augsburger Werner S. ausgehoben, die "Gruppe S.". Sie soll sich dazu verabredet haben, Moscheen zu stürmen und Muslime beim Gebet zu erschießen. Die Rechten wollten damit bürgerkriegsähnliche Verhältnisse auslösen. Genau das Gleiche wollten die Angehörigen der "Revolution Chemnitz", Rechtsradikale, die gerade in Dresden vor Gericht stehen.
Der Bürgerkrieg - das ist das Ziel all dieser Extremisten. Zurück geht das Konzept auf die "Turner-Tagebücher" des US-amerikanischen Autors William L. Pierce, es ist die Bibel der rechten Gewalttäter. Pierce schrieb, es müsse zu einem Rassenkrieg kommen, zu einem Endkampf der Weißen gegen alle anderen. Er propagiert dafür das Konzept des führerlosen Widerstands. Jeder schlägt an dem Platz zu, an dem er steht, mit den Mitteln, die er hat. Es braucht keinen Führer, keinen Anführer mehr. So wie in Hanau, in Halle, in Kassel.
Diese rechte Unterströmung ist in den vergangenen Jahren immer stärker geworden. Denn die Gewaltbereiten fühlen sich jetzt gehört, verstanden. Wenn Neonazis früher vom deutschen "Volkstod" schwafelten, weil migrantische Familien angeblich mehr Kinder als Deutsche bekämen, wurden sie belächelt. Wenn sie vom "Bevölkerungsaustausch" sprachen, den die Regierung angeblich plane, Ausländer statt Deutsche, dann waren sie allein. Doch nun hört man diese Verschwörungstheorien auch in deutschen Parlamenten. Ständig wird da gefordert, das deutsche Volk müsse sich gegen seine Regierung wehren. Gewalttäter fühlen sich dann genau dazu legitimiert: sich zu wehren, mit Waffengewalt.
Diese Leute spüren, wie die Stimmung umschlägt. Sie erleben, dass völkisches Gedankengut tatsächlich in die Gesellschaft eindringt. Und sie fühlen sich plötzlich nicht mehr als verschrobene Minderheit, sondern quasi als militärischer Arm einer völkischen Bewegung.