Seit Jahren wird intensiv darüber diskutiert, wie die Digitalisierung und die ökonomische Macht von Facebook, Microsoft, der Google-Mutter Alphabet, Apple und Amazon die Gesellschaft verändern.
In ihrem Selbstbild präsentieren sich deren Gründerfiguren wie Bill Gates oder Jeff Bezos zunehmend als Philanthropen, die nicht mehr vorrangig Geld verdienen, sondern den Klimawandel, den Welthunger oder Krankheiten bekämpfen wollen. In seinem neuen Buch "Ausgeliefert" möchte der mehrfach ausgezeichnete amerikanische Investigativ-Journalist Alec MacGillis dagegen zeigen, dass es genau jene Konzerne sind, die den sozialen Zusammenhalt untergraben.
Amazon und die Fake-Profile:"Ich liebe es, menschliche Gefühle zu haben"
Begeisterte Mitarbeiter preisen Amazon im Netz. Doch etwas ist merkwürdig an einigen von ihnen.
Amazon, so das primäre Beispiel von MacGillis, sorge dafür, dass die Schere zwischen Arm und Reich sich immer weiter öffnet, während immer weniger Menschen zu den Gewinnern gehören. Gerade Amazon akkumuliere in monopolistischer Manier immer mehr Reichtum und Macht, und Jeff Bezos, schon jetzt einer der reichsten Männer der Welt, profitiere weiter von der wachsenden Ungleichheit.
In einer zehnjährigen investigativen Recherche hat MacGillis eine Art Porträt der amerikanischen Gesellschaft anhand von Einzelschicksalen komponiert, die durch Amazon geprägt werden. Er zeichnet nach, wie Amazon vor Ort Steuern erlassen werden, obwohl die Lebenshaltungskosten durch Amazon-Ansiedlungen steigen und der Konzern nicht einmal ordentliche Löhne zahlt.
Er prangert an, wie Unternehmen wie Amazon die wirtschaftliche Konzentration in westlichen Ländern vorantreiben, indem sie Geld in wohlhabendere Teile des Landes fließen lassen, etwa nach Seattle.
Man liest von zerstörten Ehen
MacGillis will zeigen, wie sehr die Macht der Großkonzerne den gesellschaftlichen Zusammenhalt in den USA bedroht und die Ungleichheit vorantreibt. Das in "Ausgeliefert" dargestellte Amazon steht dabei metaphorisch für die großen IT-Konzerne und die globalisierte Wirtschaft, die in der Corona-Lockdown-Gesellschaft noch einmal mächtiger geworden sind.
Beispiel reiht sich an Beispiel, man erfährt von kleinen Buchhändlern, die von Amazon Marketplace bedrängt werden und dadurch mehr Kunden erreichen, zugleich aber ihre Gewinnspannen schrumpfen sehen. Man liest von zerstörten Ehen, etwa weil eine Ehefrau ihren bei Amazon tätigen Mann in den Keller verbannt aus Furcht, er könne sich angesichts der unmöglichen Arbeitsbedingungen bei Amazon mit Covid-19 angesteckt haben.
Was fehlt, ist allerdings der rote Faden. Die jeweiligen Einzelfälle werden auf über 400 Seiten im Stil von Protokollen akribisch geschildert, doch durch die überbordende Vielzahl an Details und die fehlende Einordnung verliert man fast zwangsläufig den Überblick. Erst auf den letzten Seiten wird eine Art Gesamtfazit gezogen.
Wer eine Art Fakten-Bibel zur IT-Wirtschaft oder auch nur zu Amazon sucht, wird enttäuscht. Zudem erscheint das An-prangern "der" Konzerne wohlfeil, aber etwas schlicht. Ein Unternehmen kann nicht agieren ohne Kunden, die seine Produkte nachfragen, ohne Politiker, die all dies erlauben, und ohne Wähler, die diese Politiker ins Amt wählen.
Aber was machen die Konsumenten? Kaufen fröhlich weiter
All diese Personenkreise - flankiert von Wissenschaftlern, Lobbyisten, Medien - hängen in vielfältiger Weise voneinander ab. Es ist allzu menschlich, diese Komplexität auf einzelne große Sündenböcke wie "die" Konzerne zusammenzuschnurren - und so von der eigenen Rolle abzulenken.
Zum Beispiel davon, dass die meisten aus Bequemlichkeit, Gewohnheit oder Herdenverhalten die Angebote der IT-Konzerne trotz aller Kritik weiter nutzen. Oder davon, dass sich kaum jemand darüber den Kopf zerbricht, ob die Politik die kartellrechtlichen Möglichkeiten gegen Marktmonopole wirklich nutzt und damit deren auch gesellschaftliche Macht wirksam begrenzt.
Unklar ist ferner, ob MacGillis' Analyse auf Europa übertragbar ist. Die Sozial- und Arbeitsgesetzgebung bietet an vielen Stellen mehr Schutz als in den USA. Das unterstreicht zugleich, dass man etwa Amazon nicht einfach "ausgeliefert" ist.
Auch wird die Frage nach der Ungleichheit in den USA anders und deutlich weniger kritisch diskutiert als etwa in Deutschland. Das verwundert kaum, gibt es für soziale Verteilungsfragen doch keinen übergreifenden Maßstab, sondern eine Vielzahl konkurrierender Konzepte. Deshalb findet man zur sozialen Verteilungsgleichheit - gemeint ist nicht die in liberalen Demokratien elementare Rechtsgleichheit - fast nichts in westlichen Verfassungen. Vielmehr überlässt man diese Thematik den jeweiligen politischen Mehrheiten.
Die Digitalisierung kann auch Vorteile bieten
Auch von den Fakten der Ungleichheit her könnte man die Geschichte des Zeitalters der IT-Konzerne teilweise anders erzählen als MacGillis. Dessen Einzelfällen lässt sich schwerlich widersprechen. Dennoch sind zum Beispiel in Deutschland die Menschen heute pro Kopf statistisch fast fünfmal so wohlhabend wie etwa 1972. Gewiss, der materielle Zuwachs war nicht für alle prozentual gleich groß.
Dennoch steht gerade die Digitalisierung symbolhaft dafür, dass es fast allen Menschen in der westlichen Welt heute materiell wesentlich besser geht als vor 50 Jahren. Nur dass man das selten wahrnimmt, weil es allen Menschen im eigenen Umfeld ja ebenso geht.
Das eigentliche Problem ist, dass genau dieser stetig steigende Wohlstand in seiner Summe an ökologische Grenzen stößt. Davon liest man bei MacGillis indes nichts, ebenso wenig wie davon, dass die Digitalisierung teils auch zur Ressourcenschonung beitragen kann, wenn eben Amazon die Bücher nach Hause liefert und nicht jeder einzeln ins Auto zur Buchhandlung, zum Schreibwarenladen, zum Geschenkeladen und so weiter steigt.
Wendet man all das positiv, kann man sagen: MacGillis hat ein anregendes Buch geschrieben, mit dem sich die Auseinandersetzung lohnt.
Felix Ekardt leitet die Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik in Leipzig und Berlin und lehrt an der Uni Rostock.