AfD:Der Riss durchs Land

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In Sachsen und Brandenburg wird die AfD stärkste Kraft, in Görlitz könnte ihr Kandidat OB werden - aus dem Ruck nach rechts ist Kontinuität geworden.

Von U. Nimz und J. Schneider, Berlin/Leipzig

Braunkohletagebau nahe Welzow in Brandenburg. Die Klimakrise als zentrales Wahlthema hat hier weniger verfangen als anderswo. (Foto: Patrick Pleul/dpa)

Die Stadt Görlitz ist bei Touristen beliebt. An sonnigen Wochenenden schieben sich Reisegruppen durch die Gassen. In den zurückliegenden Tagen waren auffallend viele Gäste aus dem politischen Berlin darunter: Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), Robert Habeck (Grüne), Alice Weidel (AfD). Sie alle gaben sich ein Stelldichein an der Neiße, im Wissen um die enorme Symbolkraft dieser Wahl. Görlitz, die Europastadt, wo man über die Altstadt-Brücke hinüber nach Zgorzelec in Polen schlendern kann. Was, wenn ausgerechnet hier die Europa-Skeptiker am lautesten sind, die AfD gar ihren ersten Oberbürgermeister stellt? Inzwischen ist klar: Sebastian Wippel (AfD), Polizeikommissar und Leutnant der Reserve, geht mit 36,4 Prozent der Stimmen als aussichtsreichster Kandidat in den zweiten Wahlgang. Bei der Europawahl ist die AfD in Sachsen und Brandenburg stärkste Kraft.

Görlitz, von namhaften Regisseuren gern als Drehort für Hollywood-Filme genutzt, könnte in den kommenden Monaten zur Kulisse für einen sächsischen Thriller werden. Denn im Osten sind die jüngsten Abstimmungen gleichsam Stimmungstest für die Landtagswahlen im Herbst. Görlitz ist Geburtsstadt des Ministerpräsidenten. Bereits bei der Bundestagswahl 2017 verlor Michael Kretschmer (CDU) hier sein sicher geglaubtes Direktmandat an den Bewerber von der AfD. Bei der Landtagswahl im September will Kretschmer die Schmach ausbügeln und erneut in seiner Heimat antreten. Auch deshalb ist man im Freistaat bemüht, Katastrophenstimmung gar nicht erst aufkommen zu lassen. Der Ministerpräsident warnte seine Partei vor weiterer Spaltung und bat um eine "differenzierte Reaktion". Statt alarmistischer Statements verschickt die Staatskanzlei lieber die kommenden Termine des Ministerpräsidenten: Bergbauerlebnistage im Erzgebirge, business as usual.

Wie Michael Kretschmer reist auch Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) seit einiger Zeit in kleine Gemeinden und Städte. Sie liegen eine oder zwei Autostunden von Potsdam entfernt, sind aber eine andere Welt. Eine Welt, in der vom Aufschwung, der die Landeshauptstadt und das Berliner Umland erfasst hat, wenig ankommt und viele sich abgewendet haben von der SPD, die seit der Wende durchgehend regiert. Er lädt zu Bürgergesprächen, will Präsenz zeigen, als gelte es, das Land zurückzuerobern. Seit Sonntagabend weiß der Regierungschef, dass er davon weit entfernt ist. Vor allem im Osten Brandenburgs dominiert die AfD, so erreichte sie im Landkreis Spree-Neiße 30,9 Prozent, die SPD nur halb so viel.

Aus dem oft diagnostizierten Ruck nach rechts ist Kontinuität geworden. Die AfD ist im Osten Volkspartei - und der Rest des Landes fragt einmal mehr: Was ist da los? Dass die Klimakrise als zentrales Thema der Europawahl in Brandenburg und Sachsen weniger verfangen hat als im Rest des Landes, mag mit den dortigen Braunkohlerevieren und den Herausforderungen des Strukturwandels zu tun haben. Zudem gibt es im Osten noch immer deutlich mehr Pendler, die bei der Diesel-Debatte lieber aufs Portemonnaie als in die Zukunft schauen. Entscheidend jedoch ist die flächendeckende Skepsis, die der Europäischen Union entgegengebracht wird. Vor allem im Ländlichen, wo Kleinunternehmer und Mittelständler schon lange über zu viel Bürokratie und Fremdbestimmung klagen. In den grenznahen Regionen, wo mit jedem Einbruch das individuelle Sicherheitsgefühl leidet und nicht nur der Raps blüht, sondern auch das Ressentiment, bleiben die Parolen der AfD im Ohr.

Dass die Europawahl im Osten vorrangig eine Bekenntniswahl war, lässt sich auch daran ablesen, dass die Ergebnisse der Kommunalwahl deutlich differenzierter ausfallen. Ob in Sachsen, Thüringen, Brandenburg - die CDU muss Verluste hinnehmen, kann sich aber vielerorts als kommunal stärkste Kraft behaupten, während die SPD beispielsweise in Bautzen nur noch unter "Sonstige" läuft.

Die Gräben verlaufen zwischen Jung und Alt, Stadt und Land - nicht zwischen rechts und links

In Brandenburg setzen die Sozialdemokraten zur Landtagswahl im Herbst auf den Slogan "Ein Brandenburg - Unser Land zusammenhalten". Das Wahlergebnis offenbart, dass die Gräben im Osten weniger zwischen links und rechts verlaufen, sondern zwischen Jung und Alt, Stadt und Land: In Potsdam dominieren die Grünen mit mehr als 23 Prozent, die AfD liegt unter dem Bundesschnitt. Der Leipziger Stadtrat behält seine rot-rot-grüne Mehrheit, auch in Jena siegen Linke und Grüne. In Dresden sind die Rechtspopulisten stark, aber die Grünen stärker.

In der Summe kann die AfD in Brandenburg wie in Sachsen darauf hoffen, nach den Wahlen am 1. September an der Spitze zu stehen. In Brandenburg führt der Vorsitzende Andreas Kalbitz die Partei mit fester Hand, ohne sich - wie etwa Björn Höcke in Thüringen - offen durch immer neue Provokationen als Rechtsaußen zu profilieren, obwohl auch er dem rechten "Flügel" angehört und für moderatere Rechte in der Partei keinen Raum lässt. Seine AfD soll als Kümmerer-Partei wahrgenommen werden, die sich für fehlende Buslinien oder Tierschutz einsetzt.

Dietmar Woidke gibt sich sicher, "dass wir hier in Brandenburg beste Chancen haben, stärkste Partei nicht nur zu werden, sondern auch zu bleiben". Aber selbst das würde nicht zwingend reichen. Das bisherige Regierungsbündnis mit der Linkspartei war am Sonntag weit von einer Mehrheit entfernt. Selbst ein Dreierbündnis mit den Grünen käme nur auf knapp mehr als vierzig Prozent. Auch in Sachsen, wo Ministerpräsident Kretschmer eine schwarz-blaue Koalition ausschließt, wird es schwer werden, ein regierungsfähiges Bündnis ohne AfD oder Linke zu schmieden.

Wie konfliktreich die Zusammenarbeit künftig schon auf kommunaler Ebene werden könnte, zeigte der Wahlabend in Leipzig. Im Rathaus kam es zu Tumulten und "Nazis raus"-Rufen, als Vertreter der AfD aus dem Ratssaal in die obere Wandelhalle zogen und sangen: "Die Gedanken sind frei." Der politische Klimawandel mit allen Symptomen der Überhitzung - im Osten ist er längst da.

© SZ vom 28.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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