20 Jahre 9/11:"Die Töne kann man nicht abschalten"

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Ground Zero, 20 Jahre später: Feuerwehrmann George DeSimone steuerte seinen Löschzug am 11. September Richtung World Trade Center, in den beinahe sicheren Tod. (Foto: Fabian Fellmann)

Fast 3000 Menschen starben bei den Anschlägen vom 11. September 2001. Dan McNally und George DeSimone überlebten. Wie geht es ihnen heute?

Von Fabian Fellmann, New York

Verzweifelt nahm Dan McNally Abschied von den fünf anderen Polizisten. Und vom Leben. Er wusste, was das Klicken bedeutete, das aus dem zweiten Turm des World Trade Center zu hören war. Genauso hatte es geklungen, bevor der erste Wolkenkratzer in sich zusammengefallen war. Sekunden später stürzte auch der zweite ein - und begrub die Einsatzkräfte unter sich.

Nichts. McNally fühlte nichts, wusste nicht, ob er nun tot oder am Leben war. Noch heute schaut er etwas ungläubig drein: dass er als gesunder 64-Jähriger mit seiner Triumph nach Manhattan ins Büro fahren konnte und hier nun erzählt, wie er vor zwanzig Jahren die Terroranschläge vom 11. September überlebt hat. Es fällt ihm schwer zu begreifen, dass er davongekommen ist. Anders als drei andere aus seiner Sechsergruppe, mit der er an jenem Tag im Einsatz war. Anders als ein Freund bei der Finanzgesellschaft Cantor Fitzgerald, deren Hauptsitz in einem der Zwillingstürme lag. Zwei Drittel der fast 1000 Angestellten verloren ihr Leben. "Seine ganze Hochzeitsgesellschaft war tot", sagt McNally.

Wie der New Yorker Polizist schauen viele Amerikaner in diesen Tagen zurück auf die Ereignisse des 11. September 2001 und gedenken der beinahe 3000 Opfer. Stolz erinnern sie sich daran, wie heldenhaft und selbstlos viele New Yorker damals waren. Empört erinnern sie daran, wie die Bush-Regierung einen Krieg gegen den Irak vom Zaun brach, mit erlogener Begründung. Und verwirrt schauen sie zu, wie US-Soldaten Hals über Kopf aus Afghanistan abziehen, dem zweiten Schauplatz des amerikanischen Kriegs gegen den Terror. Dort herrschen jetzt wieder die Taliban, die Gastgeber des 9/11-Drahtziehers Osama bin Laden.

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Der amerikanische Abzug aus Afghanistan sei schwer mitanzusehen, sagt McNally: "Er stellt all das infrage, wofür wir seit 9/11 gekämpft hatten." Der Feuerwehrmann George DeSimone sagt, die aktuellen Ereignisse überforderten ihn, mehr ermattet als zornig. Mit seinem Lederhelm in den Händen sitzt der 69-jährige Rentner an der 9/11-Gedenkstätte in Manhattan. Vor zwanzig Jahren führte er seinen Löschzug von Brooklyn dem eigentlich sicheren Tod entgegen, hierher, wo der Nordturm in Flammen stand, von einer Boeing 767 getroffen, der Boden von Trümmern und Leichenteilen übersät. "Wir sahen, wie die Menschen aus den Fenstern sprangen", sagt DeSimone. "An manchen Tagen denke ich kaum daran", das ist seine Art zu sagen: Diese Bilder verfolgen ihn seither Tag für Tag.

Sie reden öffentlich darüber, aber mit ihren Familien kaum

Um den Menschen beim Sprung in den Tod nicht zusehen zu müssen, hatte Dan McNally die Augen zugedrückt. Als früherer Soldat und Bombenspezialist dachte er sogar mitten im Chaos der Anschläge daran, seine Psyche zu schützen. "Aber die Töne kann man nicht abschalten", sagt er jetzt. Und schweigt vielsagend.

Wie heilen solche psychischen Verletzungen? Wie geht es den Menschen zwanzig Jahre danach? George DeSimone und Dan McNally entschieden sich damals, einfach weiterzuarbeiten, McNally wechselte später vorübergehend zur Armee. Doch mit ihren Familien berühren sie das Thema kaum. Dabei sprechen beide in der Öffentlichkeit offen und regelmäßig darüber, was sie am 11. September 2001 erlebt haben.

Dan McNally wundert sich auch heute noch manchmal, dass er überlebt hat. (Foto: Fabian Fellmann)

Trotzdem: "Die meisten Leute begreifen bis heute nicht wirklich, was damals mit uns geschehen ist", sagt DeSimone. "Die Bilder, die Geräusche, die Gerüche: Das lässt sich nicht in Worte fassen." Seine Wunden sitzen so tief, dass er auch zwanzig Jahre später die Wand mit den Porträts der getöteten Feuerwehrleute an der Gedenkstätte nicht anschauen kann. "Ich bin verletzlich", fügt er schließlich an.

Wie DeSimone geht es vielen Rettungskräften und Hinterbliebenen von Todesopfern. Der Psychiater Stephen Cozza sagt: "Die Trauer verschwindet nie ganz." Cozza ist Professor am Zentrum für Traumastudien an der Universität der US-Armee. Er hat rund 600 Angehörige von 9/11-Opfern zu ihrem Befinden befragt. Die gute Nachricht: Zwei Drittel von ihnen seien heute psychisch gesund, sagt Cozza. "Das heißt nicht, dass sie gar keine Symptome mehr spüren. Aber diese bilden nicht mehr den Mittelpunkt ihres Lebens."

Ein Drittel der Angehörigen hingegen leidet unter psychischen Erkrankungen, vor allem der posttraumatischen Belastungsstörung, Depression, Angststörungen, anhaltender Trauer oder einer Mischung daraus. Viele von ihnen hatten schon vor 9/11 traumatische Erlebnisse zu verkraften. Das dürfte sie anfälliger gemacht haben für anhaltende psychische Schwierigkeiten nach den Anschlägen. "Wir wissen, dass sich Traumata kumulieren", sagt Psychiater Cozza: Wer schwere Traumata oder wiederholte Traumata erlebt, hat zunehmend Mühe, sie zu verarbeiten.

Besonders schwer scheint die Trauer auf Müttern zu lasten, die bei den Terroranschlägen ihr Kind verloren haben: Sie erwiesen sich als verletzlichste Gruppe in der Umfrage von Psychiater Cozza. Er äußert sich dazu vorsichtig, weil die Studie methodische Einschränkungen aufweist. Doch aus der Traumaforschung sei bekannt: "Eltern haben mehr Mühe, dem Tod ihres Kindes einen Sinn zu verleihen oder ihn zu akzeptieren", sagt Cozza. "Beides geht einher mit schwereren Verläufen."

Umgekehrt fühlen sich jene besser, die aus dem Verlust einen Sinn ableiten können. Das hat Mary Fetchet geschafft. Sie verlor Brad, ihren 24-jährigen Sohn, im World Trade Center. Kurz darauf rief sie das Projekt "Voices of September 11th" ins Leben. Die Organisation sammelte Andenken an die Verstorbenen, veröffentlichte Hunderte Augenzeugenvideos und wurde zu einer Lobbyorganisation für die Anliegen der Hinterbliebenen. Diese erhielten staatliche Unterstützungszahlungen und Hilfestellungen wie medizinische Behandlungen.

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Die jüngste Forderung der Angehörigen betrifft die Veröffentlichung geheimer Regierungsunterlagen zu 9/11. Die Dokumente sollen belegen, dass Saudi-Arabien die 19 Attentäter - 15 von ihnen waren Saudis - unterstützt und mitfinanziert hatte. Das würde den Weg für Klagen gegen das Königreich ebnen. US-Präsident Joe Biden hat angeordnet, eine ganze Reihe von Papieren freizugeben; wie weit er dabei gehen wird, muss sich allerdings noch weisen.

Nicht nur ihre Psyche leidet noch, auch ihre Körper - und ihr Land

Polizist Dan McNally und Feuerwehrmann George DeSimone bezweifeln beide, dass es zwei Dritteln der von 9/11 Getroffenen heute gut gehe. "Ich kenne viele, die Schwierigkeiten haben", sagt DeSimone. Wie er selbst fühlten sich viele Kollegen schuldig, dass sie überlebt haben und andere nicht. Auch plagen ihn Sorgen um seine Gesundheit. Die giftige Luft, die er am Ground Zero einatmete, hat seine Lunge geschädigt. Vor solchen Langzeitfolgen fürchtet sich auch Dan McNally. Die Statistik gibt ihm recht: Die Hälfte der mehr als 100 000 registrierten Überlebenden und Einsatzkräfte ist wegen 9/11 erkrankt; Blut-, Prostata- und Schilddrüsenkrebs häufen sich bei ihnen auffällig. Die Wunden von 9/11 schwelen weiter. "Das Leben eines jeden von uns wurde verändert an jenem Tag", sagt Feuerwehrmann DeSimone.

Kiara Estrella ist erst ein Jahr nach den Anschlägen geboren. Sie kommt aus New Jersey, mit ihren Cousins besucht sie das 9/11-Memorial am Ground Zero. "Dieser Ort versetzt alle zurück dorthin, wo sie am Tag der Anschläge waren. Mein Flashback geht in den Geschichtsunterricht an der Highschool, als die Lehrerin uns 9/11 erklärte", sagt Estrella. Doch die Trauer und die Wut, die teilen sie und ihre Cousins Joseph und Juan: Die Amerikaner pflegen das öffentliche und gemeinsame Andenken an die Opfer der Anschläge, auch die Jüngeren. Es hilft, dass der 11. September eines der wenigen Themen ist, bei denen sich Republikaner und Demokraten nicht umgehend in die Haare bekommen.

Es ist auch diese Spaltung, die vielen hier immer mehr Sorgen bereitet. "Nach 9/11 waren wir geeint", sagt Jana Christine Campbell aus der Bronx während eines Besuchs am Ground Zero nachdenklich. Ihr Mann Paul Dejesus fügt an: "Aber jetzt sind wir wieder zerstritten." Zu einem ganz ähnlichen Schluss kommen auch Politikbeobachter. Die USA führten zwei Kriege gegen den Terror und beugten ihre rechtsstaatlichen Grundsätze, unter anderem mit Folter in Geheimgefängnissen. Gleichzeitig polarisierte sich die amerikanische Innenpolitik, und Populist Donald Trump fand in Ressentiments gegen Muslime im Nachgang von 9/11 einen exzellenten Nährboden. "Die USA leiden an einer posttraumatischen Stressdemokratie", hält Buchkritiker Carlos Lozada von der Washington Post in einem Essay über die 20 Jahre seit dem Terror fest: "Es steckt noch in der Genesung, immer noch ein gutes Land, wenn auch ein kaputtes gutes Land."

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