100 Jahre Republik Österreich:Zerrissene Fahnen, Schüsse und zwischendurch singt ein Kinderchor

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12. November 1918: Blick auf die Rampe vor dem Parlament in Wien (Foto: imago/United Archives Internatio)

Historiker Manfried Rauchensteiner schildert die von kuriosen Zwischenfällen überschattete Staatsgründung in Wien - und erklärt, warum Österreich damals unbedingt ein Teil Deutschlands sein will.

Interview von Oliver Das Gupta

Der Historiker Manfried Rauchensteiner ist einer der besten Kenner von Österreich-Ungarn. Der Professor und langjährige Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums Wien hat mit seiner umfangreichen Dokumentation "Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914-1918" die wohl beste Darstellung der letzten Jahre des Vielvölkerstaats vorgelegt. In seinem neuen Buch "Unter Beobachtung: Österreich seit 1918" Böhlau Verlag) befasst er sich damit, wie Österreich vor 100 Jahren zur Republik wurde und den Folgejahren.

SZ: Herr Rauchensteiner, in Berlin wird am 9. November 1918 die Republik ausgerufen, verbunden mit Massendemonstrationen, die Ereignisse überschlagen sich. In Wien verläuft es anders: Der Kaiser entsagt den Staatsgeschäften, die Proklamation ist ein geplantes Ereignis. Ist das, was in Österreich heute vor 100 Jahren passiert, eine richtige Revolution?

Manfried Rauchensteiner: Eigentlich nicht. Das Geschehen war dann doch eher ein einigermaßen geregelter Übergang. Österreich taugt einfach nicht für Revolutionen. Das zeigte sich schon 1848. Am Ende saß zwar ein anderer Kaiser auf dem Thron, aber sonst änderte sich nichts. Was war das denn bitte für eine Revolution? Kennzeichnend für einen Umsturz ist der Elitenwechsel, und der fand 1848 nicht statt und 1918 nur teilweise. Denn vor 100 Jahren initiieren die drei schon in der Kaiserzeit dominierenden politischen Kräfte gemeinsam den Wechsel: Sozialdemokraten, Christsoziale und Deutschnationale.

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Wie läuft die Proklamation der Republik am 12. November ab?

Etwa 200 000 Menschen kommen damals vor dem Parlament zusammen, um das historische Ereignis zu erleben. Drinnen verabschiedet die österreichische Nationalversammlung das Staatsgrundgesetz. Dann treten die Herren heraus, es werden Ansprachen gehalten. Dann kommt es bei der Fahnenhissung zu einem Vorfall, den das Volkswehrbataillon auslöst, bei dem auch der Schriftsteller und Journalist Egon Erwin Kisch dabei ist. Die Linksradikalen holen die rot-weiß-roten Fahnen wieder herunter und reißen das Weiße heraus, binden den roten Stoff zusammen und ziehen die Fahnen erneut hoch. Danach beginnt ein Kinderchor zu singen, während oben die roten Fetzen flattern.

Klingt eher nach einem Streich als nach einem Putschversuch.

Bis dahin ist es undramatisch, keiner regt sich so richtig auf. Danach wollen einige doch ein bisschen Revolution haben. Es beginnt eine Schießerei im Parlament, bei der Menschen sterben. Aber im Grunde ist es das dann auch schon.

Die neue Republik Deutschösterreich soll damals Teil Deutschlands werden, da sind sich Sozialdemokraten, Christsoziale und Deutschnationale 1918 einig. Warum ist der Drang so groß, die Eigenständigkeit Österreichs aufzugeben?

Das muss man sich nach wie vor fragen. In der Situation des Zusammenbruchs gibt es das Bedürfnis, irgendwie Halt zu finden. Das vereint alle Parteien. Es gibt damals nämlich keine einheitlichen Vorstellungen, es wird bewusst schwammig formuliert: Da ist von einem 'Sonderbundstaat' die Rede. Im Staatsgrundgesetz heißt es in Artikel 2, den im Wesentlichen der Sozialdemokrat Karl Renner formuliert, sogar: "Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik." Also es wird schon Vollzug angemeldet, ganz ohne Rückfrage. Wie sich schnell herausstellt, ist das eine Illusion.

Wie reagiert die deutsche Regierung auf den Wunsch aus Wien?

In Berlin ist man nicht gerade begeistert und winkt ab. Denn dort ist man sich sicher, dass die Folgen eines Beitritts Österreichs negativ wären. Bei den Waffenstillstandsverhandlungen mit den Siegermächten fürchtet man noch schlechtere Bedingungen, wenn Deutschland größer wäre als vor Ausbruch des Krieges.

Am Beginn gibt es also eine friedliche Umwälzung und eine Konzentrationsregierung der drei großen politischen Kräfte. Warum kippt dann das Klima in den Folgejahren in Gewalt, dann Bürgerkrieg und schließlich in einen klerikal-faschistischen Ständestaat?

Ein Hauptfaktor ist meiner Überzeugung nach der Paramilitarismus.

Das müssen Sie erklären.

Jeder Staat braucht ein gewisses Quantum an exekutiver Macht. In Österreich übt die Republik damals aber kaum Macht aus, was zu Unsicherheit führt. Als Reaktion darauf macht sich der Paramilitarismus breit. 1923 hatten Christsoziale und Sozialdemokraten bereits militärische Verbände, die jeweils etwa 100 000 Mann stark sind. Dazu kommen noch die Bauernwehren und die deutschnationalen Verbände, später die Nazis mit ihren SA- und SS-Verbänden. Jede Partei, jede politische Gruppierung schaut damals zu, dass sie einen militärischen Arm hat. Deshalb kann das demokratische Österreich langfristig nicht existieren.

Welchen Anteil haben diese Milizen damals an der Gesamtbevölkerung?

Wenn man Anfang der 30er Jahre alles zusammenrechnet, dann stehen eine halbe Million Männer unter Waffen - bei damals 6,5 Millionen Einwohnern. Diese Männer sind damals vom Ersten Weltkrieg geprägt, sie sind es gewohnt, Gewalt auszuüben und anderen Menschen Leid zuzufügen.

Gehen wir zurück in die Monate vor Gründung der Republik. Wie kündigte sich der Untergang des Vielvölkerstaats der Habsburger im letzten Kriegsjahr an?

Österreich-Ungarn ist 1918 nicht mehr kriegsfähig. Die Auflösungserscheinungen der Monarchie beginnen spätestens im Sommer, es ist ein Prozess, der sich über Monate hinzieht. Dieses Sterben geht sowohl im zivilen, als auch im militärischen Bereich vor sich. Im militärischen Sektor fällt auf, dass die Anzahl der Deserteure gewaltige Ausmaße annimmt - wir sprechen hier von Hunderttausenden.

Und im zivilen Bereich?

Da ist nicht nur die Versorgung miserabel. Auch die politische Situation ist katastrophal. Die Politiker gehen offen hasserfüllt miteinander um. In den Protokollen des Reichsrates, also der Vertretung der österreichischen Reichshälfte, kann man das nachlesen. Bei einer Geheimsitzung im Juli 1918, bei der eigentlich eine gescheiterte Offensive in Italien Thema ist, geht es nur noch ums Abrechnen. Aus den Wortmeldungen wird ersichtlich, dass da nichts mehr zusammenpasst. Auch Kaiser Karl I. kann nichts mehr ausrichten. Es geht von Woche zu Woche runter mit der Monarchie. So stirbt das Habsburger Reich still vor sich hin.

Bei den Deutschen schicken die Militärs die zivilen Politiker vor, um den Waffenstillstand zu schließen, daraus stricken später Nationalisten die 'Dolchstoßlegende'. Wer verhandelt damals für Österreich-Ungarn in Italien?

Das sind ausschließlich Militärs, da ist kein politischer Vertreter dabei. Eigentlich ist es eine kuriose Situation: Der Waffenstillstand wird von den k. und k. Militärführern für ein Reich vereinbart, das nicht mehr existiert. Die Deutschen wollen damals übrigens auch zwei Offiziere dabei haben, was die Italiener aber ablehnen. Einer der dafür vorgesehenen deutschen Vertreter wird im Zweiten Weltkrieg ein bekannter Stratege werden: Heinz Guderian.

Wie reagieren die Deutschen auf den Waffenstillstand der Österreicher?

Mit der Invasion von Nordtirol. Denn die Alliierten haben nun das Recht, sich mit ihrem Militär frei in der Habsburger-Monarchie zu bewegen. Also marschieren bayerische Soldaten ein und stoppen erst am Brenner. Die Besetzung dauert aber nur ein paar Tage, bis zum deutschen Waffenstillstand am 11. November. Danach besetzen die Italiener Tirol und haben bis 1919 ihr Hauptquartier in Innsbruck.

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