Wende im Pistorius-Prozess:Verständliche Angst, krankhafte Paranoia

Lesezeit: 3 min

Leidet Oscar Pistorius an massiven Ängsten? Der mordverdächtige Paralympics-Athlet muss sich nun psychologischen Tests unterziehen. Ihre Ergebnisse sind entscheidend.

Von Lena Jakat

Jedes Gerichtsverfahren wird gestützt und in Form gehalten von einem engen Geflecht aus Prozessordnungen, Routinen, Vorschriften. Dieses Gerüst ist an einem Ort unabdingbar, wo - wie die Richterin Thokozile Masipa es an diesem Mittwoch formulierte - der Gerechtigkeit genüge getan werden soll. Für Außenstehende sind diese Korridore aus Regeln und Ritualen, in denen sich die Akteure eines Prozesses bewegen, nicht immer verständlich, ja, bisweilen wirken sie sogar irritierend. Warum jetzt dieser Befangenheitsantrag? Warum dieser Einspruch? Viele Verhaltensweisen von Richtern, von Anklägern und Verteidigern sind professionelle Routinen, denen jede für sich genommen keine große Bedeutung zukommt und deren Beitrag zum Prozessgeschehen erst im Gesamtzusammenhang deutlich wird.

Um einen solchen, in seiner Bedeutung nicht ganz zu durchschauenden Routine-Antrag schien es sich auch bei dem jüngsten Ersuchen von Staatsanwalt Gerrie Nel zu handeln. Am Dienstag forderte er im Gauteng High Court von Pretoria, der Mann auf der Anklagebank möge für psychologische Untersuchungen in eine Klinik eingewiesen werden. Oscar Pistorius, ein psychisch kranker Mann? Er selbst bezeichnete den Antrag der Anklage als "Witz", sein Verteidiger Barry Roux empfand ihn offensichtlich als Provokation: Als Nel seine Forderung am Dienstag vor Gericht ausführte, konnte Roux seine Empörung kaum zügeln und musste sich selbst mehr als alle anderen Anwesenden ermahnen, "nicht emotional zu werden".

Doch was zunächst wie ein ritualisiertes Scharmützel unter Juristen wirkte, führte zur bislang spektakulärsten Wende im Prozess gegen den Ausnahmesportler. Prozessbeobachter hatten dem Antrag keinerlei Erfolgsaussichten prophezeit. Doch am Mittwochmorgen gab Richterin Masipa dem Antrag der Staatsanwaltschaft statt - im Interesse der Gerechtigkeit, und aus Fairness gegenüber dem Angeklagten, wie sie sagte. Pistorius muss sich nun psychologischen Tests unterziehen - ob stationär oder ambulant, darüber muss noch befunden werden.

Richterin Thokozile Masipa
:In ihren Händen liegt Pistorius' Schicksal

Einst war sie Sozialarbeiterin und Reporterin, dann wurde Thokozile Masipa von Nelson Mandela zur Richterin berufen. Am Mittwoch entscheidet sie über ein wichtiges Gutachten in ihrem prominentesten Fall - dem des Paralympics-Athleten Oscar Pistorius.

Artikel 78 der südafrikanischen Strafprozessordnung schreibt vor, dass "das Gericht im Fall der Behauptung oder des Anscheins einer psychischen Krankheit oder eines Defekts" entscheiden möge, dass "die Angelegenheit untersucht und darüber Bericht erstattet wird." Der darauffolgende Artikel präzisiert diese Untersuchung und begrenzt einen damit verbundenen Klinikaufenthalt auf zunächst 30 Tage. Der Prozess könnte also für vier Wochen unterbrochen werden.

Fraglich ist, was Masipas Entscheidung nun für den Angeklagten bedeutet. Dessen Familie sicherte am Dienstag übrigens ihre volle Unterstützung für die Anordnung des Gerichts zu. Dass die Ärzte und Psychologen der Klinik, in der sich Pistorius nun untersuchen lassen muss, ihn für geisteskrank und damit unzurechnungsfähig erklären, erscheint so gut wie ausgeschlossen. Schließlich kam seit Beginn des Prozesses am 3. März niemand auf eine mögliche psychische Erkrankung des 27-Jährigen zu sprechen. Weder - wenig verwunderlich - die Anklage, die Pistorius wegen Mordes ins Gefängnis bringen will, noch die Verteidigung.

Ein mögliches Szenario ist nun, dass die Experten zu einem ähnlichen Schluss kommen wie Merryl Vorster. Die von der Verteidigung als Zeugin geladene Psychiaterin hatte am Montag ausgesagt, dass der Angeklagte unter einer "generellen Angststörung" leide, nicht aber unter einer psychischen Erkrankung. Vorsters Aussage sollte Pistorius' Variante der Tatnacht stützen, wonach er seine Freundin Reeva Steenkamp irrtümlich für einen Einbrecher hielt und deswegen versehentlich erschoss. Ein Strang in der Argumentation der Verteidigung bestand von Anfang an darin, Pistorius' tiefsitzende Angst vor Gewalt immer wieder deutlich zu machen, eine Angst, die bisher aber nie als krankhaft bezeichnet wurde.

Gutachten könnte Glaubwürdigkeit beschädigen

Bestätigen die Gutachter der Klinik, in die Pistorius nun überstellt wird, dass er nachweislich mit solchen Ängsten zu kämpfen hat, würde das seine Variante von Steenkamps Tod bestätigen - und damit der Verteidigung in die Hände spielen. Falls Vorsters Kollegen aber zu einem anderen Schluss kommen, würde das die Glaubwürdigkeit des Angeklagten erheblich beschädigen. Alles, was er bisher gesagt hat, stünde damit in Zweifel.

Das Ergebnis der psychologischen Untersuchung ist also von enormer Bedeutung in diesem außergewöhnlichen Prozess, in dem es nicht um eine Tat an sich geht - sondern um deren Deutung. Oscar Pistorius bestreitet ja nicht, die vier tödlichen Schüsse durch die verschlossene Toilettentür seines Hauses abgegeben zu haben. Was er in dem Prozess erreichen will, ist, dass das Gericht seine Version von Steenkamps Tod zur Wahrheit erklärt. Dass er seine Freundin versehentlich getötet hat - und zwar aus nachvollziehbaren Gründen. Und nicht etwa, weil er ein eifersüchtiger Choleriker ist, oder gar ein waffenvernarrter, paranoider Geisteskranker. "Ich glaube, jeder in Südafrika hat schon einmal Erfahrung mit Gewalt gemacht", war einer von Pistorius' ersten Sätze, als er selbst in den Zeugenstand trat.

Am kommenden Dienstag wird Masipa die Details der richterlichen Anordnung bekanntgeben.

© Süddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: