Vergewaltigungen in Indien:Viele Arten, eine Frau loszuwerden

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Mehr als 50 Millionen Frauen sollen in den letzten drei Generationen in Indien getötet worden sein, eine Million weibliche Föten werden jedes Jahr abgetrieben und Tausende Mädchen gleich nach der Geburt stranguliert oder ausgesetzt; Mädchen unter fünf Jahren haben eine 75 Prozent höhere Sterblichkeitsrate als Jungen in dem Alter. Abtreibung, Kindstötung, Vernachlässigung, Mitgiftmord, sogenannte Ehrenmorde, Gewalt. Es gibt viele Arten, eine Frau loszuwerden.

In manchen Bundesstaaten in Indien gibt es mittlerweile so wenige Frauen, dass die Eltern für ihre Söhne aus ärmeren Bundesstaaten oder aus anderen Ländern Bräute kaufen. Es sind Frauen für den Allgemeingebrauch, von vielen Männern benutzt, Durchschnittspreis: 40.000 Rupien, 500 Euro. Manche sagen, man könne auch schon für 1000 Rupien eine Frau bekommen - für zwölf Euro.

"Der Bodensatz für solche Zustände ist die kriminelle Politik in diesem Land, in dem sich Kriminelle wohler fühlen als normale Bürger", sagt Rita Banerji. "Da wird Vergewaltigung vom Gesetz oft nicht mal als Vergewaltigung anerkannt. Bride-trafficking zum Beispiel, diese Frauen werden von zahllosen Männern missbraucht und vergewaltigt, aber die Polizei zuckt nur die Schultern und sagt, sie sind verheiratet." Vergewaltigung in der Ehe ist keine Vergewaltigung.

Dann erzählt Banerji von dem kleinen Dorf Sutia in Westbengalen, in dem die Kriminellen eines Tages damit anfingen, Vergewaltigungen als Druckmittel zu nutzen, um die Menschen zum Schweigen zu bringen. Von 2000 bis 2002 wurden in diesem einen kleinen Dorf 33 Frauen vergewaltigt und 13 Menschen getötet. Alle hatten Angst, alle kuschten, bis eines Tages der junge Lehrer Barun Biswas öffentlich sagte: "Wenn uns der Mut fehlt, uns gegen die Vergewaltiger zu wehren, dann haben wir eine härtere Strafe verdient als sie."

Am 5. Juli 2012 wurde er auf offener Straße von hinten erschossen. Keiner der Passanten half, ihn ins Auto zu heben oder ihn ins Krankenhaus zu bringen.

"Kriminelle in Indien haben keine Angst"

Aber in den großen Städten lassen sich die Leute nicht mehr so leicht einschüchtern seit der brutalen Gruppenvergewaltigung in Delhi Ende 2012. Viele tragen seitdem Buttons, auf denen steht: "I respect women". Und nach jeder Vergewaltigung gehen sie wieder auf die Straße, sie tragen Kerzen durch die Nacht und schreien ihre Wut in die Gesichter der Polizisten. Sie tragen Schilder vor sich wie Waffen: "Wer ist der Wilde? Die Polizei. Die Regierung. Oder der Vergewaltiger?"

Die Kluft zwischen den Menschen und den Institutionen, zwischen den Bürgern und den Politikern wird immer größer. Sie ist zu einer riesigen Schlucht aufgerissen. Rita Banerji mag die Dinge etwas brutaler sagen als andere, aber im Grunde sehen es viele so wie sie.

Der Bruder der getöteten Studentin in Delhi sagte zum einjährigen Todestag: "Wir denken, dass die Gesellschaft als Ganzes ihre Haltung ändern muss."

Rita Banerji fragt: Wie soll eine Gesellschaft ihre Haltung ändern, wenn ein hoher Politiker, der wegen Vergewaltigung vor Gericht steht, weiter Politiker sein darf? Wenn ein Richter ein Kind, das von mehr als 40 Männern vergewaltigt wurde, eine "Kinderprostituierte" nennen darf. Es sei doch so, dass die Wahrscheinlichkeit, in Indien für eine Vergewaltigung bestraft zu werden, noch immer so gering ist, dass es keinen Täter abschrecke. "Kriminelle in Indien haben keine Angst. Ich glaube sogar, dass es einen Anstieg von Gruppenvergewaltigungen und Morden an Frauen gibt."

Immerhin gehen jetzt immer mehr Opfer zur Polizei und zeigen die Täter an. Das ist neu. Früher wurden sie dort oft gleich noch einmal vergewaltigt. Auch wenn keiner weiß, wie viele Frauen noch immer schweigen, wie viele sich aus Scham selbst töten. Und natürlich, wenn wie jetzt Ausländerinnen vergewaltigt werden, arbeite die Polizei schnell und vorbildlich. Wenn es eine Inderin ist, noch dazu eine arme, passiere oft nichts, sagt Banerji. "Es gibt Verbesserungen, aber die sind eher kosmetisch."

Die Inderinnen kennen die Angst, sie haben ihr Leben so eingerichtet, dass sie nicht mehr alleine unterwegs sind. Sie lassen sich abholen, sagen Termine ab, wechseln ihre Jobs. Wenn sie es sich leisten können, fahren sie mit dem Taxi nach Hause. Dann telefonieren sie mit ihren Müttern, die ganze Fahrt lang, bis sie der Taxifahrer absetzt. Rita Banerji hat nach den zwei neuen Fällen auch Sicherheitstipps für Ausländerinnen auf ihre Webseite gestellt: "Die glauben ja oft, dass die Medien übertreiben. Aber sie übertreiben nicht."

Rita Banerji ist eine starke Frau, aber manchmal auch eine müde. Die Menschen seien einfach hilflos, sagt sie. "Es ist das Gefühl, in einer Anarchie zu leben."

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