USA:Zu Hause im Klassenzimmer

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Das Akademische ist zweitrangig in der Schule 188 in New York. (Foto: Google Maps)

In New York steigt die Zahl der obdachlosen Schulkinder rasant an. Die Lehrer müssen sich deshalb auf besondere Weise um sie kümmern, das Akademische ist erst einmal zweitrangig. Ein Schulbesuch.

Von Kathrin Werner, New York

Ihr Sorgenkind ist schon wieder nicht da. Die Mitschüler sitzen über ihre Englischbücher gebeugt und lernen leise Vokabeln, aber der schmale Tisch des Sorgenkinds ist wie so oft leer. Gestern ist das Mädchen immerhin zu zwei von drei Klassenarbeiten erschienen. Heute regnet es und sie fehlt. Wahrscheinlich muss Klassenlehrerin Sharon Ducker noch einmal einen Sozialarbeiter nach Hause zu der Fünftklässlerin schicken, um herauszufinden, wo sie steckt. Wobei der Begriff "nach Hause" es nicht trifft, denn Duckers Sorgenkind ist obdachlos und wohnt in einer Notunterkunft gegenüber der Schule.

Ducker ist Lehrerin in der öffentlichen Schule Nummer 188 in der Lower East Side in New York. Fast die Hälfte aller Schüler der Grund- und Mittelschule ist obdachlos, was vor allem daran liegt, dass es in der Nachbarschaft des hellrot verputzten Schulgebäudes vier große Obdachlosenunterkünfte gibt. Das macht die Schule zu einem Extremfall, aber nicht zum Einzelfall. Denn die Zahl der wohnungslosen Schulkinder in New York steigt rapide.

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In der Millionenstadt wird die soziale Kluft immer größer: New York hat die meisten Milliardäre weltweit. Zugleich fällt es Niedrigverdienern durch die Gentrifizierung immer schwerer, Wohnraum zu finden. Laut einer jüngst veröffentlichten Zählung der Behörde Independent Budget Office lebten fast 33 000 New Yorker Kinder zumindest einen Teil des vergangenen Schuljahres in Obdachlosenunterkünften. Das sind rund 4000 Schüler mehr als im Vorjahr - und mehr Kinder als an allen allgemeinbildenden Schulen in einer Stadt wie Augsburg. Fast 33 000 New Yorker Kinder, die keinen Ort haben, um Hausaufgaben zu machen, die von Schule zu Schule wechseln.

Klassenlehrerin Ducker kämpft dafür, dass auch sie eine Chance im Leben bekommen. "Es ist unglaublich anstrengend", sagt sie. "Aber es gibt mir auch viel. Ich kann etwas bewirken." Sie lebt mit einem ständigen Kommen und Gehen. Neben den Schülern, die unentschuldigt fehlen, melden Eltern ihre Kinder oft ganz von der Schule ab, weil sie eine Wohnung finden in einem anderen Stadtteil. Andere verlieren ihre Bleibe und melden ihre Kinder neu in der Schule Nummer 188 an.

Ducker lernt ständig neue Namen und versucht, die Schüler auf den gleichen Stand zu bringen. Soll sie die Kinder so unterrichten, dass auch die Schwächsten folgen können? Oder mit dem Unterricht weitermachen, obwohl die neuen Schüler nichts verstehen? "Ich versuche einen Mittelweg und so gut es geht auf alle einzeln einzugehen", sagt sie. Am Anfang des Jahres hatte sie 29 Schüler in ihrer Klasse, jetzt sind es 34. Aber es sind nie alle da. Direkt hinter dem Eingang der Schule hängt ein Poster mit Bienen und den Namen der Schüler, die es im vergangenen Monat geschafft haben, jeden Tag zur Schule zu erscheinen. Es waren 59 Kinder - von insgesamt 520 zwischen vier und 14 Jahren, zwischen Vorschule und achter Klasse.

Die Schulleiterin hält Zahnbürsten und Socken für die Kinder bereit

Für Schulen mit einem hohen Anteil armer Kinder gibt es besondere Mittel von der Stadtverwaltung und Unterstützung von verschiedenen Hilfsorganisationen. "Aber das Geld ist trotzdem immer knapp", sagt Schulleiterin Suany Ramos. In ihrem Büro hält sie Zahnbürsten, Socken und Waschmittel bereit für die Kinder. Die 43-Jährige sieht ihre Aufgabe darin, den Kindern, die sonst kein Zuhause haben, einen sicheren Ort zu geben. Die Schule ist jeden Tag bis 18 Uhr geöffnet, auch in den Ferien, und hat auch samstags Programm für die Kinder, die lieber in der Schule als sonst irgendwo sind.

Ramos' Schule hat sich auf wohnungslose und andere arme Schüler besser eingestellt als die meisten anderen Schulen New Yorks, manche Eltern entscheiden sich deshalb für sie. Es gibt Englischstunden, Mal-, Näh- und Kochkurse, Musik-, Theater- und Sportgruppen und Nachhilfeangebote, auch für die Eltern. Es gibt kostenlose Waschmaschinen und Trockner, Computer, an denen die Eltern etwa eine Bewerbung schreiben können und Therapeuten, die für Kinder und Eltern da sind. "Es bringt nichts, sich nur um die Schüler zu kümmern", sagt Ramos. "Wir betreuen die ganze Familie." So spricht auch sie auf Englisch und Spanisch mit den Schülern, mehr als ein Drittel kann nur schlecht Englisch.

Den Jungs fehlt die männliche Bezugsperson

Viele von ihnen erleben Gewalt zu Hause. "Fast niemand hat zu Hause einen Daddy und wenn, ist er oft gewalttätig", sagt die Schulleiterin. "Darum brauchen die Jungs bei uns besondere Aufmerksamkeit, ihnen fehlt die männliche Bezugsperson." In der Schule Nummer 188 sind alle Kinder arm, ein Grund, warum alle die gleichen kostenlosen Polo-Shirts mit dem Aufnäher der Schule tragen. "Das hat auch etwas für sich, bei uns muss man sich nicht schämen", sagt Schulleiterin Ramos.

Ein Drittel der Schüler hat emotionale Störungen, Lernbehinderungen oder braucht besondere Aufmerksamkeit. Viele haben ihre eigenen Betreuer. "Unsere erste Aufgabe ist, die Kinder emotional und sozial so zu stabilisieren, dass sie sich konzentrieren können", sagt Ramos. "Danach können wir uns ums Akademische kümmern." Wenn die Schüler ein Schuljahr bleiben, machen sie im Schnitt größere Fortschritte als an anderen Schulen, aber sie bleiben zu selten. "Wir machen viel, so viel wie wir können. Genug ist es nie."

© SZ vom 17.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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