SZ-Serie "Ein Anruf bei ...":"Und dann bin ich auf die Grabsteine mit den Rezepten gestoßen"

SZ-Serie "Ein Anruf bei ...": Sammlerin und Bäckerin von Grabsteinrezepten: Rosie Grant.

Sammlerin und Bäckerin von Grabsteinrezepten: Rosie Grant.

(Foto: Rosie Grant)

Die Amerikanerin Rosie Grant sammelt Backrezepte, die in Grabsteine eingraviert sind. Was sie dabei über Menschen lernt und welches Rezept es ihr besonders angetan hat.

Interview von Violetta Simon

Wenn Rosie Grant bäckt, geht es meist um Leben und Tod. Die 32-jährige Bibliothekarin, die mit ihrem Partner in Washington, D.C., lebt, hat ein Faible für eine ganz besondere Art von Rezepten: solche, die in ein Grab eingemeißelt sind. Seit sie die Rezepte zu Hause nachbäckt und im Internet veröffentlicht, bekommt Grant auch Fotos von anderen Grabsteinrezepten zugeschickt.

SZ: Sie treiben sich gerne auf Friedhöfen herum - ein etwas morbides Hobby, oder?

Rosie Grant: Gar nicht, Friedhöfe sind ganz wunderbare Orte, ein bisschen wie Freilichtmuseen. Während meiner Ausbildung zur Archivarin habe ich viel Zeit auf dem Congressional Cemetery in Washington verbracht, einem der ältesten Friedhöfe der USA, der auch heute noch genutzt wird. Mithilfe von Geodaten lokalisierte ich Gräber und übertrug ihre Geschichten, die im Archiv lagerten, auf Google Arts and Culture. Das ist eine Plattform, die virtuelle Rundgänge ermöglicht. Seitdem weiß ich, wie viel diese Gräber über unsere Gesellschaft verraten.

Erzählen Sie mal, was haben Sie so entdeckt?

Es gibt eigene Bereiche für Menschen aus der LGBT-Community. Aber auch für Kinder, die Opfer der Pandemie wurden. Wussten Sie, dass die Leute während der Prohibition Grabsteine dazu nutzten, um Alkohol darunter zu verstecken? Und dass Hugh Hefner seine Grabstätte neben der von Marilyn Monroe hat? Wer auch immer sie ihm verkauft hat, mag verflucht sein. Und dann bin ich auf die Grabsteine mit den Rezepten gestoßen. Und habe beschlossen, sie auszuprobieren.

Weil Sie sehr gut backen können?

Das würde ich nicht sagen. Ich hatte während der Lockdown-Phase einfach viel Zeit und wollte es lernen. Das Spannende an den Grabsteinrezepten war für mich, zu sehen, wie Menschen in Erinnerung behalten werden wollen, und was sie sich dafür einfallen lassen. Die Familie von Kathryn Andrews, genannt Kay, gedenkt ihrer zum Beispiel auf besonders süße Weise: mit einem Fudge-Rezept, das sind diese würfelförmigen Toffees. Die Geschichte dahinter erfuhr ich von ihrer Tochter: Kay, Mutter von fünf Kindern, setzte sich viel für andere ein. Sie schrieb oft Gedichte und schenkte Freunden und Verwandten ihre selbstgemachten Fudges, um sie zu ermutigen. Bevor sie 2019 starb, bat sie darum, das Rezept auf ihrem Grabstein einzugravieren. Sie liegt in Utah auf dem Logan City Cemetery.

Dort sind Sie wegen des Rezepts extra hingefahren?

Oh nein, das wäre mit meinem Beruf schlecht zu vereinbaren - kaum eines der Gräber mit den Rezepten liegt in der Nähe von Washington, D.C., das nächstgelegene ist etwa acht Autostunden entfernt. Auf die meisten Rezepte stoße ich über die Onlineplattform Atlas Obscura, die von Menschen auf der ganzen Welt mithilfe von Crowdsourcing bestückt wird. Einige finde ich beim Stöbern im Netz, in Blogs oder auf Twitter. Und immer öfter bekomme ich Fotos zugeschickt, wenn jemand ein Grabstein-Rezept entdeckt hat.

SZ-Serie "Ein Anruf bei ...": Der Cementerio General de La Almudena in Peru - einer der schönsten Friedhöfe der Welt, wenn man Rosie Grant fragt.

Der Cementerio General de La Almudena in Peru - einer der schönsten Friedhöfe der Welt, wenn man Rosie Grant fragt.

(Foto: Rosie Grant)

Und, gelingen die Rezepte auf Anhieb?

Bei einigen lief es wirklich gut, bei anderen weniger. Den ersten Versuch, ein Spritzgebäck, habe ich vermasselt. Es gab keine Angaben zur Zubereitung, auf dem Grab standen nur die Zutaten. Und Kays Fudge-Rezept habe ich beim ersten Mal leider auch verpatzt - die Toffees waren eher wie Suppe. Mein Lieblingsrezept ist Idas Nussrolle, gerade weil die Umsetzung sehr aufwendig war. Das Rezept ist in einen Grabstein in Israel graviert, deshalb musste eine Freundin meiner Mutter es erst einmal für mich aus dem Hebräischen übersetzen. Im Grunde ähnelt es einem Nussbrötchen mit Marmelade, allerdings benötigt man dafür Turkish Delight. Diese weich-klebrige Masse ist bei uns in Washington schwer zu finden, also habe ich es erst einmal ohne versucht. War nicht so gut. Auf Tiktok hat mir dann jemand verraten, wo ich es herbekomme, damit konnte ich die Nussrolle noch einmal genau so machen, wie Ida sie gemacht hätte.

Nach dem Backen posten Sie die Ergebnisse auf Tiktok - ein bisschen zielen Sie schon auf den Gruseleffekt, oder?

Das Gruseligste an Friedhöfen ist doch eigentlich nur die Angst vor dem Tod, über den wir nicht viel wissen. Aber die Verstorbenen hatten ein Leben, hinterlassen geliebte Menschen und Geschichten. Diese Geschichten zu schützen und ihre Erinnerungen weiterleben zu lassen - darum geht es für mich.

Was verraten Ihnen die Rezepte noch, außer, wie eine Nussrolle gelingt?

All diese Gräber gehören Frauen, deren Rezepte sehr beliebt waren, und die ihr Backwerk zu Familienfeiern mitbrachten. Nach Gesprächen mit ihren Verwandten oder Freunden denke ich, dass sie alle gute Gastgeberinnen und gerne unter Menschen waren. Wenn ich könnte, würde ich sie alle gern zu einer Dinnerparty einladen.

Sie sind ja immer auf der Suche nach Rezepten - fehlt Ihnen noch was bestimmtes, vielleicht ein Hefezopf von einem bayerischen Friedhof?

Immer gerne! Ich bin sicher, dass ich noch lange nicht alle gefunden habe - vielleicht könnten wir an der Stelle ja mal Ihre Leser fragen?

Nur zu!

Also, wenn jemand ein Grabrezept in Deutschland kennt und mir schreibt, würde ich das Rezepte gerne ausprobieren und vorstellen!

Weitere Folgen der SZ-Serie "Ein Anruf bei ..." finden Sie hier.

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