Sexuelle Gewalt in Haiti:"Der Albtraum geht weiter"

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In Haitis Notunterkünften kommt es regelmäßig zu Vergewaltigungen. Melanie Brooks vom Hilfswerk Care spricht über sexuelle Gewalt und wie man gegen sie vorbeugen kann.

Inga Rahmsdorf

Nach dem Erdbeben in Haiti sind besonders Frauen und Kinder von sexueller Gewalt bedroht. Dadurch steigt auch das Risiko einer HIV-Infektion und ungewollter Schwangerschaften. Haiti hat heute die höchste HIV-Infektionsrate außerhalb von Afrika. Melanie Brooks arbeitet vor Ort für die internationale Hilfsorganisation Care, die traumatisierte Frauen und Mädchen betreut und sich für ihren Schutz einsetzt.

SZ: Wie ist die Situation in Haiti?

Brooks: Viele Menschen leben immer noch auf der Straße oder in Flüchtlingscamps und sind dadurch vor allem nachts völlig schutzlos. Besonders Frauen und Kinder sind von sexueller Gewalt bedroht. Der Albtraum, den sie beim Erdbeben erlebt haben, geht für sie weiter.

SZ: Hat die sexuelle Gewalt seit dem Erdbeben zugenommen?

Brooks: Es gibt keine Statistiken, aber Frauen berichten vermehrt von sexuellen Übergriffen. Untereinander warnen sie sich vor besonders gefährlichen Orten. Die Frauen sprechen vom mouvais esprit, dem schlechten Geist. Sie meinen damit aber eine reale Gefahr: Männer, die nachts in den Notunterkünften Frauen und Kinder vergewaltigen. Es gibt dort kein Licht und alle übernachten gemeinsam. Eine Frau erzählte mir, dass in ihrer Familie nie alle gleichzeitig schlafen. Einer hält immer Wache.

SZ: Können Frauen die Vergewaltigungen anzeigen?

Brooks: Die meisten Polizeistationen sind zerstört. Außerdem fällt es den Frauen schwer, darüber zu sprechen. Sie schämen sich, wissen nicht, an wen sie sich wenden und wem sie trauen können. Zusätzlich zum Erdbeben haben sie ein schweres Trauma erlebt, sind ungewollt schwanger oder haben sich mit HIV oder anderen Krankheiten infiziert. Schon vor dem Erdbeben gab es in Haiti viel Gewalt gegen Frauen. Vergewaltigung gilt in dem Land erst seit 2005 als Straftat.

SZ: Wie helfen Sie diesen Frauen?

Brooks: Wir bilden Frauen aus, damit sie psychologische und medizinische Hilfe leisten und die Vergewaltigungen anzeigen können. In den Flüchtlingslagern müssen die Frauen informiert werden, damit sie wissen, an wen sie sich wenden können. Wir verteilen auch Nothilfepakete mit Kondomen und Medizin, um das Risiko einer sexuell übertragbaren Infektion zu verringern. Haiti hat eine der höchsten Geburtenraten der Region. Viele Schwangere leben unter katastrophalen hygienischen Bedingungen. Sie wissen nicht, wo sie entbinden sollen, es gibt kaum Krankenhäuser. Viele haben gar nichts - nicht einmal ein Tuch, um das Neugeborene einzuwickeln.

SZ: Richten sich Ihre Programme auch an Männer?

Brooks: Ja, auf jeden Fall müssen die Männer integriert werden. Das ist sehr wichtig. Die Kampagne soll ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Gewalt gegen Frauen und Kinder zu verurteilen ist.

SZ: Wie lässt sich denn derzeit konkret die Gewalt in Haiti verringern?

Brooks: Wenn Latrinen in einem Flüchtlingslager für Männer und Frauen in dieselbe Ecke gebaut werden, schafft das ein neues Risiko, missbraucht zu werden. Um das zu vermeiden, müssen die Toiletten gut beleuchtet sein und strikt getrennt werden. Das Gleiche gilt für Orte zum Waschen. Nach dem Erdbeben haben sich viele Frauen auf der Straße gewaschen, im T-Shirt oder mit nacktem Oberkörper. Für ihren Schutz brauchen sie aber abgetrennte Räume.

SZ: Wird nach solchen Katastrophen der Schutz von Frauen zu sehr außer Acht gelassen?

Brooks: Dem speziellen Schutz von Frauen und Mädchen wurde in solchen Katastrophensituationen nie genug Priorität eingeräumt. Dabei sollte er immer berücksichtigt und in alle Programme integriert werden, sonst verschlimmert sich die Situation. In Haiti waren aber dieses Mal Experten für den Schutz und die Gesundheit von Frauen von Anfang an mit dabei. Das ist eine positive Entwicklung.

SZ: Was brauchen die Frauen jetzt am dringendsten?

Brooks: Schutz und Unterkünfte. Ende März beginnt die Regenzeit, dann werden die Flüchtlingslager weggeschwemmt. Als es hier in den vergangenen Tagen nur ein wenig geregnet hat, standen sie schon unter Wasser. Unterkünfte sind auch für die Sicherheit der Frauen wichtig. Selbst wenn eine Frau allein dort schläft, ist sie dadurch geschützter, weil man von außen nicht sehen kann, wer dort liegt. Es fehlen aber noch feste Plastikplanen, um ausreichend wasserfeste Häuser zu bauen.

© SZ vom 24.2.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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