Reformationstag:Suche nach der Gnade in einer gnadenlosen Welt

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Grübelnd und geschunden: "Christus in der Rast" aus dem Diözesanmuseum Freising in Oberbayern. (Foto: Marco Einfeldt)

An diesem Reformationstag wird viel Erbauliches gepredigt über Martin Luther. Trotzdem klingen manche Reden von Pfarrern und Bischöfen flach - weil sie alles Grausame aus dem Nachdenken über Gott eliminieren.

Kommentar von Matthias Drobinski

Der Theologe und Lyriker Christian Lehnert erzählt, wie er einmal in einem ostdeutschen Dorf über die Liebe und Nähe des gnädigen Gottes predigte und sich danach eine alte Polin ihm in den Weg stellte: "Sie beteten um Gottes Nähe? Wissen Sie, was Sie da wollen?" Dann erzählte sie, wie sie 1939 in einer Ackerfurche lag und die deutschen Panzer kamen und sie um ihr Leben betete. Da spürte sie Gottes Nähe und lag geborgen im Schoß der Erde; die Panzer rollten vorbei. Tags darauf fand man alle Bewohner des Nachbarhofs, erschossen, mit der Zunge an den Küchentisch genagelt. Die eine gerettet, die anderen getötet.

Ist das Gottes Nähe und Gnade?

An diesem Reformationstag wird viel Erbauliches gepredigt über Martin Luther und seinen Thesenanschlag vor 500 Jahren in Wittenberg, über seinen Protest gegen die Behauptung, man könne das Heil und das Paradies mit Geld erwerben, über seine Erkenntnis, dass Gottes Gnade den Menschen erlöst und nicht seine Leistung; über Freiheit, Gewissen, Individualität. Das alles hat sein Recht. Und trotzdem klingt so manche Pfarrers- und auch Bischofsrede flach an diesem Tag: Du bist in Ordnung, wie du bist. Gott ist da und liebt dich, hat dich und die Welt in der Hand. Und geht es dir schlecht, ist er da.

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Ist er das? Wo ist er, wenn in Syrien Assads Fassbomben Kinder zerreißen und angebliche Gotteskrieger Menschen köpfen? Wo ist er, wenn Menschen an Hunger und Krankheit krepieren? Ist er in den Folterkellern der Welt oder bei den ersaufenden Flüchtlingen im Mittelmeer, flüstert ihnen in ihrer verzweifelten Atemnot zu: Ist schon ok, wie du bist? Steht er den Alten bei, die einsam und vergessen im Neonlicht des Krankenhausflurs an ihr Ende kommen? Oder ist die Rede vom Beistand nicht mehr als eine billige Lüge?

Der Schriftsteller Günter Franzen hat in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom Tod seiner Frau berichtet, deren schmerzgeschüttelten Körper die Krebszellen fraßen. "Nun hat mein Auge dich gesehen", zitiert er den biblischen Hiob, dem Gott Schritt um Schritt das Liebste nahm, um ihn auf die Probe zu stellen, im Spiel mit dem Teufel. Im Moment des Abgrundes und der Verlassenheit wird er sichtbar, doch nichts verwandelt sich in Trost; die Verlassenheit und der Abgrund bleiben. Franzen schreibt, wie er mit dem Leitungspersonal der evangelischen Kirche hadert, den Softsellern des Trostes in allen Lebenslagen - nein, die Zeit heilt keine Wunden. Und dass ihn kein frommer Seelsorger zurück ins Leben bringt, sondern ein Therapeut, der nach dem Tod der Frau mit ihm lange schweigt und dann "verdammte Scheiße" sagt.

Verdammte Scheiße. Das ist tatsächlich viel näher an Martin Luther als manche Erbauungspredigt zum Reformationstag. Luthers Gottsuche ist zweifelnd und verzweifelt, sein Leben lang. Er ringt mit diesem Gott, der keine Antwort gibt, sich entzieht und dem Teufel Raum gibt, der sich ausgerechnet dann verbirgt, wenn eine Offenbarung in Macht und Herrlichkeit wirklich mal angebracht gewesen wäre. Er sieht sich ausgeliefert und gottverlassen: "Es muss ein jeglicher sich mit den Feinden, mit dem Teufel und Tode selbst einlegen und allein mit ihnen im Kampf liegen: Ich werde dann nicht bei dir sein noch du bei mir", schreibt er. Und seine Antwort, dass allein der Glaube den furchtbaren zum gnädigen Gott macht und dieses kleine Menschenleben doch einen Sinn und ein Ziel haben könnte, das ist ein Akt des durch nichts abgesicherten Vertrauens. Weniger als eine Bindfadenbreite trennt dieses durch keine innerweltliche Rationalität gerechtfertigte Vertrauen vom Nein zu Gott angesichts dieser unfassbaren Zumutung des Glaubens.

Fünf Jahrhunderte trennen Martin Luther und die Menschen des Jahres 2017; in Deutschland sind sie in einer Weise frei und gleich, dass der Reformator erschrecken würde; sie können Gene verändern und ins All fliegen und All und Welt aufs Smartphone in der Hosentasche holen. Der Faden, der sich von diesem fernen Mann des ausgehenden Mittelalters bis heute spannt, ist die Suche nach der Gnade in einer gnadenlosen Welt, nach einer Realität jenseits der Wahrnehmung und des Augenscheins, nach der Letztbegründung der bedrohten, zerbrechlichen, gebrochenen Existenz. Es ist eine Suche, die Christen an die Grenzen ihres Glaubens führen muss, angesichts eines schweigenden und verborgenen Gottes, der aller Lebenshilfeliteratur spottet. Das erklärt die Angst vieler Theologen, evangelisch wie katholisch, von dieser existenziellen Gottessuche entlang der Abgründe zu reden. Sie gefährdet alle Sicherheiten, sie verbietet billigen Trost, sie stößt alle vor den Kopf, die Glaubenssicherheit wünschen.

Ein Gott, der keine Antwort hat, außer: verdammte Scheiße

Martin Luthers großartige Antwort war: Der Christengott ist kein Gott des innerweltlichen Triumphes, des Himmelreiches auf Erden, kein "Spiritual Leader" fürs angenehmere Leben. Der gnädige Gott ist für ihn der gekreuzigte, leidende Gott, grausamstmöglich hingerichtet und erniedrigt, aller Menschenwürde beraubt. Es ist der Gott an der Seite der Krepierenden, Ertrinkenden, Krebszerfressenen und Bombenzerfetzten, der keine menschenverständliche Antwort hat, außer vielleicht: verdammte Scheiße. Es gibt gute Gründe, warum die evangelische Kirche den Karfreitag, den Kreuzestag, für den höchsten Feiertag hält. Und zu den schlechtesten Forderungen zeitgenössischer Theologie gehört es, sich von dieser Kreuzesgeschichte zu verabschieden, weil sie so grausam ist und vielleicht Kinder und andere zartbesaitete Gemüter erschrecken könnte. Wer das Erschreckende und Beunruhigende aus dem Nachdenken über Gott herausfiltert, macht es flach und banal.

Wann zeigt sich deine Gnade, gnädiger Gott? In allen Momenten der Menschlichkeit und der verzweifelten Liebe, dem unverhofften Guten; in der Hoffnung gegen alle Wahrscheinlichkeit, dem Vertrauen auf den schwankenden Boden, dass Gott auch in einer Welt voller Teufel "ein' feste Burg ist", wie es in dem Kirchenlied von Martin Luther heißt. Auch das zieht sich durch die Geschichte bis heute: Es gibt diese unglaublichen Momente der Gottesahnung und der Paradiesmusik, es gibt sie auch dort, wo jede Menschlichkeit gemordet scheint. Und keine Aufklärung dieser Welt hat sie bislang wegrationalisieren können. Nur kann sie auch niemand herstellen oder herbeipredigen, kein Pfarrer oder Bischof, nicht zu Weihnachten oder am Reformationstag. Die letzten Worte, die Martin Luther am 16. Februar 1546 kurz vor seinem Tod aufschrieb lauten: "Wir sind Bettler, das ist wahr." Auch das gilt heute wie vor 500 Jahren.

© SZ vom 30.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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