Prozess um tödliches Wettsaufen:Trinken und sterben lassen

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Ein Wirt, eine Wette und der Tod: In Berlin wird das Urteil gegen den Kneipier erwartet, in dessen Lokal ein 16-Jähriger nach mehr als 40 Tequila ins Koma gefallen war.

Hans Holzhaider

Sie fühlten sich als eine Art Familie, alle, die in dieser Nacht im "EyeT", waren, der Kneipe von Aytac am Spandauer Damm in Charlottenburg. Die "Eye-T-Familie": Sabrina, Manni, Florian, Dzemal, Bernd, Lara (die Namen aller jugendlichen Zeugen sind geändert), und natürlich Aytac G. der Wirt.

Ein Justizbeamter vor dem Saal des Berliner Landgerichts, in dem der Prozess gegen den Wirt stattfindet (Foto: Foto: ddp)

Der war damals 26 Jahre alt, nicht so viel älter als seine jungen Gäste. Und, nicht zu vergessen, Lukas W., 16, Schüler am Dreilinden-Gymnasium in Zehlendorf. Ein großer, kräftiger Junge, 1,87 Meter, 86 Kilo schwer. Alle wussten, dass Lukas viel trank und viel vertrug.

Als Lukas tot war, analysierten sie in der Gerichtsmedizin seine Haare. In den Haaren lagert sich Fettsäureethylester ab, ein Abbauprodukt des Alkohols, und in Lukas' Haaren fand man davon 0,72 Nanogramm pro Milligramm Haar, ein Wert, sagt Gerichtsmediziner Michael Tsokos, der auf "erhebliche Alkoholgewöhnung" schließen lasse.

Kein Puls, keine Atmung

Am 25. Februar 2007, es war ein Sonntag, ging um 7.15 Uhr der Notruf bei der Feuerwehr ein, drei Minuten später war der Rettungswagen da, die beiden Feuerwehrmänner fanden Lukas W. in einer Ecke der Bar sitzend, sein Gesicht war blau angelaufen, kein Puls, keine Atmung. Sie begannen sofort mit Herzmassage und Beatmung, zehn Minuten später kam der Notarzt.

"Als ich eintraf, war Lukas klinisch tot", sagt der Arzt, "er hatte eine Nulllinie auf dem EKG, das heißt, er war schon seit mindestens zehn Minuten ohne Kreislauf." Lukas wurde intubiert, bekam Adrenalin und Atropin intravenös, endlich sprang das Herz wieder an, "wir haben ihn lebend ins Krankenhaus gebracht", sagt der Notarzt.

Die Blutprobe ergab 4,4 Promille Alkohol im Blutserum, das entspricht 3,6 Promille im Vollblut. Fünf Wochen lag Lukas W. im Koma, es gab keinerlei Aussicht auf eine Besserung. "Zwei Tage vor Lukas' Tod", sagt Jutta W., 55, die Mutter, "haben wir mit den Ärzten gesprochen, dass die lebenserhaltenden Maschinen abgestellt werden. Er atmete noch selbständig weiter."

Jutta W. ist Diplombibliothekarin, eine gebildete Frau, und nichts weist darauf hin, dass sie keine fürsorgliche Mutter wäre. Sie lebte allein mit ihren beiden Kindern, Lukas und der zwei Jahre jüngeren Schwester. Lukas war am Ende des letzten Schuljahres nicht versetzt worden, er musste die 9. Klasse wiederholen und hatte die Schule gewechselt. Ende Januar hatte es Zwischenzeugnisse gegeben, "es sah nicht schlecht aus", sagt die Mutter, "von Schule schmeißen war keine Rede."

Wie kann man einen 16-Jährigen behüten in einer großen Stadt? Man kann ihn nicht zu Hause einsperren, man kann ihn auch nicht ständig kontrollieren, wenn er sich mit Freunden trifft - was also kann eine Mutter tun außer reden und warnen und manchmal streiten?

"Selbstverständlich habe ich mit ihm über Alkohol gesprochen", sagt Jutta W. als Zeugin vor der 22.Strafkammer des Landgerichts Berlin, wo seit vier Monaten gegen Aytac G. verhandelt wird, den Wirt der Kneipe, in der sich Lukas W. zu Tode getrunken hat. "Mir ist ja nicht entgangen, dass er manchmal zu viel getrunken hat. Wir haben ziemlich heftige Auseinandersetzungen geführt."

"Und?", fragt der Vorsitzende Richter Peter Faust, "Wie war sein Standpunkt?" "Für ihn war es ..." setzt die Mutter an, das Wort "normal" will ihr nicht über die Lippen. Dann nimmt sie einen neuen Anlauf: "Es war halt einfach üblich, dass man was getrunken hat." Sie wusste, dass Lukas im Eye T verkehrte, "er erzählte, dass er sich mit dem Inhaber gut versteht, er fühlte sich akzeptiert."

Ein bisschen was beweisen

Gab es feste Zeiten, wann er zu Hause sein musste? Ja, sagt sie, bis 15 um Mitternacht, dann auch mal bis eins oder zwei. An jenem Samstagabend aber hatte sie ihn gar nicht erwartet, er wollte mit einem Freund in die Disco und danach bei dem Freund übernachten.

Das hatte er zu Hause erzählt. Seine Freundinnen und Freunde wussten es besser. Sie wussten, dass Lukas an diesem Abend mit Aytac G. um die Wette trinken wollte: Tequila, bis einer aufgibt oder kotzt.

Seinen besten Freund Sascha, damals 15, hatte er gebeten mitzukommen, damit er ihn notfalls nach Hause bringen könnte, aber Sascha konnte nicht. Seiner Freundin Katharina, damals 17, hatte Lukas schon einige Wochen vorher davon erzählt, die Sache war lange geplant. "Ich hab' ihm gesagt, er soll lieber verlieren, als dass was passiert", sagt sie.

"Wie viel hat er denn so gewöhnlich getrunken", fragt der Vorsitzende Richter. "Na ja", sagt Katharina"nicht mehr als andere Jugendliche auch." "Wir fragen uns: Was war denn der tiefere Grund?", hakt der Richter nach. "Er wollte sich vielleicht ein bisschen beweisen, vor sich selbst und anderen", sagt die Zeugin. "Bei den Jungs ist das vielleicht was ganz Tolles."

Mike, damals 15, war oft mit Lukas im Eye T, auch er wusste von dem geplanten Wettsaufen. "Wir haben da immer Alkohol getrunken", sagt er, "das war ja der Grund, warum wir hin sind, weil man da keinen Ausweis zeigen musste. Deswegen war's da ja so gut gefüllt, weil sich das rumgesprochen hat."

Es war auch konkurrenzlos billig im Eye T. Cocktails, die anderswo acht oder neun Euro kosten, gab es im Eye T für 4,50 Euro, und "so'n kleiner shot Tequila", sagt Mike, "hat erst zwei, später nur noch einen Euro gekostet". Als er das letzte Mal mit Lukas im Eye T war, habe Lukas gleich fünf geordert: Da wurden also fünf Gläser Tequila auf einmal serviert und hintereinander weggekippt.

Er füllte die Tequilaflasche mit Wasser

Im Eye T veranstalteten an diesem Abend einige Leute eine Privatparty, die meisten waren schon gegangen. Dzemal, damals 18, stand an der Tür, als Aytac ihm sagte, Lukas komme zum Wetttrinken. Dzemal musste sich hinter den Tresen stellen und einschenken.

Aytac fürchtete, er würde verlieren und füllte eine Tequilaflasche mit Wasser. Lukas und Aytac setzten sich gegenüber an einen Tisch, Dzemal schenkte ein und Sabrina servierte. Dzemal füllte immer ein Glas mit Tequila und das andere mit Wasser, stellte die Gläser auf ein Tablett, und sagte Sabrina, welches sie Aytac und welches sie Lukas servieren sollte.

Keiner hielt es für nötig, Lukas auf den Betrug aufmerksam zu machen. Manni führte die Strichliste und rief den Stand des Wettstreits im Lokal aus. Irgendwann - vielleicht schon nach zehn, vielleicht erst nach 20 Gläsern - verwechselte Sabrina die Gläser, und Lukas sagte, das Zeug schmecke ja wie Wasser. "Dann hab' ich die Tequilaflasche auf den Tisch gestellt, damit Aytac auch Tequila trinken musste", sagt Manni.

Dann sei weitergetrunken worden, "bis Lukas auf den Tisch gesunken ist". Aytac stand auf, sagte den Jugendlichen, sie sollten noch saubermachen, gab Manni den Schlüssel und verließ das Lokal. "Er war lustig drauf", erinnert sich Lara. "Er sagte, wir sollen zusperren, wenn wir gehen." Manni stellte einen Eimer neben den Tisch. "Er hat nur ganz wenig erbrochen, da kam fast nichts raus", sagt Manni.

Zusammen mit Bernd bugsierte er Lukas auf ein Sofa, in stabile Seitenlage. Auf Lukas' Bauch schrieb Manni mit Kugelschreiber: "Du hast verloren 44:45."

"Sabrina und ich wollten eigentlich gleich den Krankenwagen holen", sagt Bernd, damals 17, "aber dann wollten wir doch noch warten, ob es nicht besser wird." So vergingen eine oder eineinhalb Stunden. "Dann hat Bernd gemerkt, dass Lukas im Gesicht blau anläuft, er und Florian fingen mit Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassage an, Dzemal rief die Feuerwehr", erzählt Manni.

"Wenn alle dichthalten, passiert nichts"

Anwalt Johannes Eisenberg, der Aytac G. verteidigt, möchte an dieser Stelle etwas klarstellen: "Da wurde nicht kassiert? Da ging es nicht um Gewinnerzielungsabsicht?" "Nein", antwortet der Zeuge. "Das musste man ja auch mal sagen", konstatiert Rechtsanwalt Eisenberg. "In dem Saal hier wabert die moralische Entrüstung; hier ist das schlimmste vorstellbare Verbrechen begangen worden, nämlich ein Wetttrinken."

Aytac G. tat sein Möglichstes, um ungeschoren aus der Sache herauszukommen. Als klar wurde, dass Lukas W. wohl nicht aus dem Koma erwachen würde, bat er die Mitglieder der "Eye-T-Familie" zu einem Treffen in der Bar. "Er sagte, wenn wir alle dichthalten, kann keinem was passieren", sagt Manni. "Wir sollten sagen, dass kein Tequila getrunken wurde", sagt Lara. "Irgendwie war's ein Freundschaftsdienst. Wir waren doch alle sehr gut befreundet."

Also haben alle gelogen, als die Polizei sie zum ersten Mal vernahm. Aber das haben sie nicht lange durchgehalten. Bernd sagt: "Ich habe aus Angst vor Strafe gelogen. Aber dann hat mich mein Gewissen eingeholt." Dzemal sagt: "Ich habe gelogen, um Aytac zu schützen. Weil er mir leid getan hat." Leise setzt er hinzu: "Lukas hat mir auch leid getan."

Die Mühlen der Berliner Justiz haben sehr langsam gemahlen im Fall Lukas. Im Februar 2008, ein Jahr nach dem verhängnisvollen Abend im "Eye T", standen vier der Jugendlichen vor Gericht, die in der einen oder anderen Form am Wetttrinken zwischen Lukas W. und Aytac G. beteiligt waren - Dzemal und Bernd, die die Schnäpse eingeschenkt hatten, Sabrina, die sie den beiden Wetttrinkern servierte, und Manni, der die Strichliste führte.

Manni und Dzemal wurden verurteilt, zehn Monate an einem sozialen Trainingskurs teilzunehmen. Bernd wurde freigesprochen, das Verfahren gegen Sabrina wegen geringer Schuld eingestellt.

Dzemals Verteidiger Eckart Fleischmann hatte im Prozess argumentiert, in einem Fall wie diesem gelte das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit: "Jeder kann sich zu Tode saufen oder aus dem Fenster springen, wie er will." Diese kühne These hatte vor dem Bundesgerichtshof keinen Bestand, die Revision gegen die Entscheidung des Berliner Landgerichts wurde zurückgewiesen.

Nie wieder Alkohol

Das Eye-T wurde im April 2007 vom Wirtschaftsamt Charlottenburg-Wilmersdorf wegen "mangelnder Zuverlässigkeit des Gewerbetreibenden" geschlossen. Aytac G. saß ein halbes Jahr in U-Haft. Er arbeitet jetzt in einem Callcenter, er wolle, sagt er, "nie wieder etwas mit dem Ausschank von Alkohol zu tun haben".

Der Prozess gegen Aytac G. wegen Körperverletzung mit Todesfolge begann erst im Februar 2009, vorher fand die chronisch überlastete Berliner Justiz keinen Termin. Am ersten Prozesstag verlas die Verteidigung eine ausgefeilte Erklärung, in der Aytac G. das "äußere Geschehen" einräumt, das Wetttrinken "bedauert und bereut", und erklärt, er sei "verantwortlich für den Tod des Geschädigten". Ob er sich strafrechtlich schuldig gemacht habe, müsse das Gericht entscheiden.

An diesem Mittwoch will das Gericht diese Entscheidung verkünden.

© SZ vom 17.06.2009/aho - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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