Die Kölner Ringe haben keinen guten Ruf. Feierwütiges Volk, trinkfeste Partygesellschaften, der übliche Umland-Unterhaltungs-Tourismus, ein bisschen Rotlicht, Drogen, jugendlicher Übermut, zu viel Alkohol: Rund um die Kölner Altstadt ist Wochenende für Wochenende viel los, das bildet sich häufig im Polizeibericht ab. Beamte, die dort zu tun haben, wissen, was sie erwartet, in der Regel viel Stress. Seit 2016 versucht die Kölner Polizei, im Rahmen eines Präsenzkonzepts mit mehr Beamten in den einschlägigen Gegenden Straftaten zu verhindern.
In der Nacht vom 17. auf den 18. November 2018, gegen halb drei Uhr morgens, ist die Schicht von Oliver K., 44, und seinen fünf jüngeren Kolleginnen und Kollegen im Rahmen dieses Präsenzkonzepts zu Ende. Die sechs Beamten wollen, so stellen sie es dar, gemeinsam im Polizei-Sprinter von der Samstagabend-Schicht auf dem Kölner Kiez zurück zu ihrer Wache und in den Feierabend. Dabei fällt ihnen ein unglücklich abgestelltes Taxi auf, das die Fahrbahn und den Radweg gleichermaßen blockiert.
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Die Männer hatten im Dienst Geschlechtsverkehr mit einer Frau, deren Papiere sie kontrollieren sollten. Das Gericht beurteilt ihr Verhalten als "erschreckend und zutiefst verstörend".
In diesem Taxi sitzt als Fahrgast der SZ-Journalist Javier Cáceres, 50, er ist auf einer Dienstreise, sein Hotel in der Nähe, er will aussteigen. Wie man heute weiß: zur falschen Zeit am falschen Ort. Die folgende Begegnung mit der Polizei endet für ihn nicht nur mit ein paar Stunden in der Zelle, sondern auch mit einem dreifachen Trümmerbruch des Sprunggelenks im linken Fuß - und als Nebenkläger vor Gericht.
Was ist geschehen? Die Schilderungen gehen weit auseinander
Cáceres zeigte danach die Beamten jener Nacht wegen vorsätzlicher Körperverletzung im Amt an, die Staatsanwaltschaft Köln schließlich klagt den Gruppenführer Oliver K., seit fast 28 Jahren Polizeibeamter, als möglichen Täter an. Am Dienstagabend nun wurde K. freigesprochen.
Cáceres hat an jenem Wochenende erst vom Länderspiel Niederlande gegen Frankreich in Rotterdam berichtet, wenige Tage später soll er in Gelsenkirchen die Partie Deutschland gegen die Niederlande verfolgen. Er quartiert sich in Köln ein und nutzt den freien Samstagabend, um sich mit einer Jugendfreundin zu treffen. Sie essen in einem Restaurant, trinken in einer Bar, dann entscheiden sie sich, gemeinsam ein Taxi zu nehmen. Cáceres' Hotel liegt auf dem Weg, er will als Erster aussteigen.
Was dann passiert, darüber gehen die Schilderungen weit auseinander. Nach Cáceres' Erinnerung steigt er aus dem Taxi und trifft dort auf eine Gruppe von Polizisten, die bereits auf das Taxi zukommt. Die Polizisten schildern den Vorgang anders, sie sagen, sie hätten alle im Auto gesessen, neben dem Taxi angehalten und von Beifahrerfenster zu Fahrerfenster den Taxilenker angesprochen. Cáceres habe sich zwischen Polizeiauto und Taxi gestellt und die Maßnahme behindert, "sonst hätte das zehn Sekunden gedauert", sagt einer der Beamten.
Er sei "renitent" gewesen, räumt der Journalist ein
Die Bekannte des Journalisten, die noch im Taxi saß und nie als Zeugin vernommen wurde, bestätigt gegenüber der SZ die Darstellung des Journalisten: Die Polizisten seien bereits auf der Straße gewesen. Auch sei der Taxifahrer ausgestiegen, um mit den Beamten zu reden. Ihn haben die Ermittler später ebenfalls nicht vernommen.
Unstrittig ist der folgende Verlauf: Cáceres, dem es nach eigenen Angaben peinlich gewesen sei, dass seine Bekannte auf dem Heimweg aufgehalten wird, fängt eine Diskussion mit den Polizisten an. Platzverweise der Beamten ignoriert er, er sei "renitent" gewesen, räumt er vor Gericht ein, "weil ich die Maßnahme für überzogen gehalten habe".
Die Lage eskaliert, Cáceres wird von Oliver K. zu Boden gebracht, weil er, so K. vor Gericht, "den Wohlfühlabstand" mehrmals unterschritten habe - und spürt danach Schmerzen im linken Fuß. Er gibt das auch noch in der Nacht an: "Sie haben mich getreten." Vor Gericht sagen fünf der sechs Beamten aus, keinen Tritt gesehen zu haben, ihn sogar zu 100 Prozent ausschließen zu können. Nur einer sagt, er habe keine freie Sicht auf das Geschehen gehabt. Einige bemerken aber, dass Cáceres humpelt, niemand kann sich die Verletzung erklären. Der angetrunkene Taxigast habe in Gewahrsam genommen werden müssen, sagten die Beamten im Prozess aus, um "weitere Straftaten" zu verhindern, er sei "eine Gefahr für andere Passanten gewesen". Allerdings habe er keinen Beamten beleidigt oder bedroht, nach dem Zubodenbringen sei er sogar "sehr ruhig und vernünftig" gewesen.
Drei Wochen Krankenhaus, sechs Wochen arbeitsunfähig, bis heute Schrauben im Bein
Dennoch bringt ein Gefängniswagen Cáceres schließlich ins Polizeipräsidium, dort wird um fünf Uhr ein Alkoholwert von 0,66 mg/l Atemluft festgestellt. Gegen sechs Uhr am Morgen wird er entlassen. Sein Weg führt ihn ins Krankenhaus, wo die multiplen Verletzungen aus der Nacht aufgenommen und schließlich operiert werden: drei Wochen Krankenhaus, sechs Wochen arbeitsunfähig, bis heute Schrauben im Bein. Cáceres, überzeugt davon, von einem Polizisten, der auf der Uniform den Namen "Oli" oder "Oliver" aufgedruckt gehabt habe, getreten worden zu sein, erstattet Anzeige.
Zahlen belegen, dass solche Anzeigen in der Regel keinen Erfolg versprechen. Laut einer Auswertung der Ruhr-Universität Bochum werden 90 Prozent der Verfahren gegen Polizeibeamte eingestellt, so auch die Ermittlungen nach der Anzeige des Redakteurs. Nur eine Beschwerde bei der Generalstaatsanwaltschaft in Verbindung mit einem inzwischen erstellten biomechanischen Gutachten, wonach die Verletzung ohne Einwirkung von stumpfer Gewalt auf den Knöchel des Verletzten nicht denkbar sei, führen zu einer Wiederaufnahme - und zur Anklage gegen Oliver K.
Cáceres tritt in dem Verfahren als Nebenkläger auf, sein Anwalt, der Münchner Strafverteidiger Werner Leitner, befragt die Zeugen vor Gericht intensiv. So muss der Angeklagte zugeben, dass er mit jenem Polizisten, der bei der Kripo Bonn den Fall der Kölner Kollegen untersuchte, gemeinsam die Ausbildung absolviert hat. Und die fünf Kollegen und Kolleginnen aus dieser Nacht räumen freimütig ein, sich vor ihren Vernehmungen besprochen zu haben, auch mit dem Angeklagten. Die Vernehmungsprotokolle ähneln sich, sie sind kurz, welche Fragen den Beamten gestellt wurden, geht daraus nicht hervor.
Der Gutachter hält die Einwirkung stumpfer Gewalt für höchst wahrscheinlich
Schon in der Nacht, in der K. den Journalisten Cáceres "sanft zu Boden gebracht" haben will, habe K., so ein Zeuge, bei der Weiterfahrt im Auto zu den Kollegen später gesagt: "Da kommt bestimmt noch was nach." Einen Tritt aber schließt K. kategorisch aus, "ich möchte sogar ausschließen, dass es unabsichtlich passiert sein kann". Warum K. fürchtete, dass "etwas nachkommen" könne, hinterfragt das Gericht nicht.
Der Gutachter, der die Verletzungen für die Nebenklage untersucht hat, verfolgt die gesamte Gerichtsverhandlung. Er hört, dass alle Polizisten aussagen: kein Tritt. Auf keinen Fall. Letztlich bleibt der Gutachter dabei, dass die Einwirkung stumpfer Gewalt bei dem schweren Verletzungsbild höchst wahrscheinlich ist, ein Polizeistiefel zum Geschehen passen würde, auch zur Schilderung des Geschädigten, aber nicht zu der des Angeklagten. Er hält es nun aber auch für möglich, dass der Polizist Cáceres versehentlich auf den Fuß getreten ist. Eine Variante, in der die Verletzung ohne Fremdeinwirkung "durch eine Gewichtsverlagerung" geschehen sein könnte, spielt sich im sehr Theoretischen ab.
Der Polizist sei "mehr als sachgerecht und freundlich" vorgegangen, sagt der Verteidiger
Die Staatsanwaltschaft schwächt im Plädoyer schließlich den Vorwurf von Vorsatz auf Fahrlässigkeit ab und fordert 5000 Euro Geldstrafe für Oliver K. Die Verteidigung plädiert auf Freispruch, der Polizist sei "mehr als sachgerecht und freundlich" mit Cáceres umgegangen. Die Nebenklage verweist darauf, dass der Angeklagte gelogen habe, als er sagte, die Polizisten hätten sich vor ihren Vernehmungen nicht besprochen, er verweist darauf, dass keiner der Beamten auch nur ein Wort des Bedauerns ausgedrückt habe (das folgte erst im Schlusswort), zitiert die Synchronität der Zeugenaussagen: "Diese Form des Schulterschlusses geht nur bei der Polizei" - und die Absicht sei gewesen, das wahre Geschehen zu verdunkeln.
Um sein Urteil zu finden, braucht der Einzelrichter am Amtsgericht Köln keine drei Minuten, er spricht den Angeklagten frei. Vorsatz sei dem Polizisten Oliver K. nicht zu unterstellen, Corpsgeist der Polizisten könne er nicht erkennen. Es gebe mehrere Varianten, wie Cáceres sich verletzt haben könnte: Schon bevor er aus dem Taxi ausgestiegen ist, ohne Fremdeinwirkung "durch Gewichtsverlagerung" am Ort des Geschehens oder durch einen versehentlichen Tritt auf den Fuß durch den Beamten. Das aber sei nicht strafbar, weil die Polizeimaßnahme insgesamt "sachgemäß und rechtmäßig" gewesen sei, der Geschädigte sich hingegen "völlig unangemessen verhalten und eine Polizeimaßnahme gestört" habe. Rechtsmittel gegen das Urteil sind möglich.
Korrektur: In einer ersten Version wurde der gemessene Alkoholwert bei dem Geschädigten mit 0,66 Promille angegeben. Richtig ist, dass es keine Blutentnahme gegeben hat, sondern ein Atem-Messgerät eingesetzt wurde. Der Wert der Alkoholkonzentration ist daher in Milligramm pro Liter Atemluft anzugeben. In der Regel entspricht das umgerechnet dem doppelten Promillewert, der in diesem Fall also bei 1,3 Promille gelegen hätte.