Gaffer:"Es ist nicht alles richtig, nur weil es wirkt"

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Wer Unfall-Tote filmt oder fotografiert, soll künftig mit Geldbußen oder sogar Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren bestraft werden können. (Foto: Lino Mirgeler/picture alliance)

Ein Polizist fordert filmende Gaffer dazu auf, sich die Leiche des Verunglückten anzusehen. Effektiv, finden die meisten. Ein Pädagoge hat einen anderen Vorschlag.

Interview von Violetta Simon

Im Netz wird der Polizeibeamte Stefan Pfeiffer gefeiert für die Art und Weise, wie er nach einem tödlichen Lkw-Unfall Gaffer zur Rede gestellt hat. Einige Autofahrer, die mit ihrem Handy das Trümmerfeld auf der A 6 bei Nürnberg filmten, forderte der Leiter der Verkehrsinspektion Feucht dazu auf, sich die Leiche des Fernfahrers anzusehen: "Sie wollen tote Menschen sehen, Fotos machen? Kommen Sie!" Pfeiffer erklärte im Anschluss, er halte die direkte Konfrontation für effektiver als Bußgeld, weil sie die Gaffer schockiere und einen Lerneffekt habe. Auch wenn nun viele eine Verdienstmedaille für den Polizisten fordern: Als polizeiliche Standardmaßnahme eigne sich das Vorgehen nicht, erklärte eine Polizeisprecherin. Warum eigentlich? Ein Gespräch mit Thomas Eckert, Professor für Erziehungs- und Sozialisationsforschung am Institut für allgemeine Pädagogik an der LMU München.

SZ: Was geht in einem Menschen vor, der an einer Unfallstelle, wo gerade jemand gestorben ist, das Handy zückt und filmt?

Thomas Eckert: In so einem Moment geht es den Gaffern sicher nicht darum, sich am Leid anderer zu weiden oder sich der eigenen Sterblichkeit bewusst zu werden, wie es bei öffentlichen Hinrichtungen im Mittelalter der Fall war. Hier steht das Filmen und Weitergeben im Vordergrund: Man hat etwas Außergewöhnliches erlebt, das man dokumentieren und anderen erzählen kann.

Aber ist das nicht unfassbar empathielos? Das wäre es, wenn da nicht diese Distanz wäre, aus der heraus der Gaffer beobachtet und filmt. Käme er dem Opfer näher, würde ihm klar werden, dass hier das echte Leben stattfindet. So aber wird das Mitgefühl quasi durch die Leitplanke ausgeschaltet. Das Phänomen wurde bereits 1961 im Milgram-Experiment belegt, bei dem Testpersonen einen Fremden mit vermeintlichen Stromstößen bestrafen sollten: Je geringer die Distanz zwischen Testperson und "Opfer" war, umso stärker der Gewissenskonflikt und das Mitgefühl.

Dann ist es doch ein cleverer Schachzug, dass der Polizist diese Distanz beseitigt hat. Oder?

Es war auf jeden Fall wirkungsvoll. Dass das so viral geht, hat ja gezeigt, wie sehr der Vorfall die Leute bewegt. Man könnte sagen, es war eine paradoxe Intervention, die überrascht oder geradezu schockiert. Als Autofahrer würde man mit einer Ermahnung oder einem Bußgeld rechnen, aber nicht damit, dass der Polizist einen aus der Komfortzone holt und zur Leiche führt.

Quasi eine Schock- oder Konfrontationstherapie?

Das ist weder eine Schock- noch eine Konfrontationstherapie - das ist überhaupt keine Therapie. Dem Beamten ist halt der Kragen geplatzt. Ich denke, er hat sich in dem Moment richtig geärgert über die Gesamtsituation, den unnötigen Stau, die Behinderung der Hilfskräfte und so weiter. Also hat er sich stellvertretend einen Autofahrer herausgegriffen und ihm gezeigt, was er da tut. Das betrachte ich als spontanes Verhalten. Aber noch nicht als pädagogische Maßnahme.

Ist es denn nicht pädagogisch, jemanden vor laufenden Fernsehkameras mit seinem unverantwortlichen Verhalten zu konfrontieren?

Natürlich wurde dem Gaffer in dem Moment bewusst, welchen Fehler er gemacht hat. Aber das weiß er auch so, jeder weiß das. Wenn man das pädagogisch interpretiert, dann wird es bitter. So will man als Pädagoge nicht arbeiten, ich lehne das ab.

Immerhin hat der Mann sofort eingelenkt und sich entschuldigt.

Es ist nicht alles richtig, nur weil es wirkt. Aus der Psychologie weiß man, dass Strafe nicht sehr wirkungsvoll ist. Weil Leute dabei nur lernen, was sie nicht tun sollen, aber nicht, was sie tun sollen. Damit es funktioniert, müsste man die psychische Disposition verändern, die zu dem problematischen Verhalten führt. Das gelingt aber nicht durch Konfrontation und Abschreckung. Das wäre so, als würde ich ein Kind durch Einschüchterung zwingen, still am Tisch zu sitzen, statt ihm ein Verhalten an die Hand zu geben oder ihm vorzuleben, warum es für alle Beteiligten sinnvoll ist, beim Essen zu sitzen. Als Pädagoge will man mit Einsicht arbeiten. Doch im Kontext des Gaffens ist das richtig schwer.

Thomas Eckert, Professor für Allgemeine Pädagogik an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, hält die Reaktion des Polizisten für wirkungsvoll - aber trotzdem nicht für eine geeignete pädagogische Maßnahme. (Foto: OH)

Warum? Sagten Sie nicht, jeder wüsste, dass Gaffen schlecht ist?

Weil da diese Lücke besteht zwischen Einstellung und Verhalten, die wir täglich zu spüren bekommen. Wer durch eine 30er-Zone fährt, ärgert sich schnell über die Einschränkung - bis das eigene Kind in der Straße spielt.

Was würden Sie also empfehlen?

Die Leute müssten dazu motiviert werden, sich richtig zu verhalten, also keine Rettungskräfte zu behindern, eine Gasse zu bilden und so weiter. Vermitteln lässt sich so etwas durch konkrete Beispiele, etwa die Frage: "Was würdest du tun, wenn deine Schwester dort liegt?" Und womöglich über digitale Technik, indem man etwa in Virtual Reality so eine Situation durchspielt. So lässt sich Betroffenheit erzeugen und Einsicht vermitteln. Anhalten und Gaffen ist dabei nur ein Faktor, den man verhindern will.

Was wäre eigentlich gewesen, wenn der Gaffer das Angebot angenommen hätte und die Leiche hätte sehen wollen?

Das wäre ein Eigentor für den Polizisten gewesen. Dann ist das Paradoxe weg, denn der Aufgeforderte hätte auf die Paradoxie mit Paradoxie reagiert.

© SZ vom 24.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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