Wenn sich Pfadfinder öffentlich zu Wort melden, geht es meistens um die schönen Seiten der weltweit größten Jugendbewegung. Um Abenteuer, Gruppengefühl, Zeltlager oder auch darum, dass viele Gruppen während der Pandemie regelrecht überrannt wurden, weil Pfandfinderaktivitäten meistens coronakonform draußen stattfinden. Anders am Mittwoch in Berlin. Da will der Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder (BdP) über die Schattenseiten sprechen und über Dinge, die lange im Dunkeln lagen. Über Missbrauch und sexualisierte Gewalt.
Es habe immer wieder Hinweise auf Übergriffe in den eigenen Reihen gegeben, sagt Maria Venus, die Bundesvorsitzende des BdP. Da kursierten Erzählungen von Pfadfinderlagern oder Jugendfreizeiten, bei denen es zu sexuellen Handlungen gekommen sein soll. Da meldete sich ein Mann, der auf einer Pfadfinder-Website das Foto eines honorigen Mitglieds entdeckt hatte und sagte, er habe eine ganz andere Geschichte aus dessen Pfadfinderzeit zu erzählen. Die eines langjährigen Peinigers nämlich, dessen Opfer er wurde. Da tauchten Akten auf, in denen man nachlesen konnte, wie ein bereits einschlägig verurteilter Täter weiterhin bei den Pfadfindern gehalten worden war, damit seine Karriere keinen Schaden nehme.
Wie groß das Ausmaß ist, könne man nicht sagen, betont Venus. Nur dass es jetzt systematisch erforscht werden soll. Dazu will man in Zusammenarbeit mit einem wissenschaftlichen Institut alte Akten aufarbeiten und Zeitzeuginnen und Zeitzeugen hören. Es soll um Vorfälle seit den Siebzigerjahren gehen.
Ein deutsches Gericht sprach von "Abgründen"
Dass der BdP, der mit 30 000 Kindern und Jugendlichen der größte interkonfessionelle Pfadfinderverband in Deutschland ist, sich gerade jetzt seiner Vergangenheit stellt, ist kein Zufall. In den vergangenen Jahren waren immer wieder schwere Missbrauchsfälle im Pfadfindermilieu an die Öffentlichkeit gelangt. So wurde vergangenen Dezember in Baden-Baden ein früherer Gruppenleiter zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt. Der heute 64-Jährige hatte vor mehr als 30 Jahren im Keller eines Pfadfinderhauses kindliche und jugendliche Pfadfinder erst dazu genötigt, ein Mädchen zu vergewaltigen, und sie dann mittels "Pfadfinderschwur" dazu gebracht, über die Taten zu schweigen. Die Aussagen von Zeugen hätten ihn "in Abgründe blicken lassen", sagte der Richter bei der Urteilsverkündung.
Noch größere Abgründe taten sich in den USA auf. Dort stehen die Boy Scouts of America im Mittelpunkt eines der größten Missbrauchsskandale, seit im Jahr 2012 herauskam, dass zwischen 1965 und 1985 mindestens tausend Betreuer sexuelle Übergriffe begangen hatten. Oft wurden die Kinder und Jugendlichen nachts geweckt und vergewaltigt. Die Fälle waren der Organisation bekannt und systematisch vertuscht worden, oft ermittelten selbst die Behörden nicht, um dem Ansehen der Pfadfinder nicht zu schaden. Mehr als 84 000 Menschen haben sich einer Klage gegen die Boy Scouts of America angeschlossen, im Juli einigte sich die Pfadfinderorganisation nun mit den Betroffenen auf eine Entschädigungssumme von 850 Millionen Dollar.
"Jahrzehntelanges Schweigen"
Es sei klar, warum es gerade unter Pfadfindern vermehrt zu solchen Taten gekommen sei, sagt Peter Caspari vom Münchner Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP), einem sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut, das schon die Missbrauchsfälle an der hessischen Odenwaldschule oder im bayerischen Kloster Ettal aufgearbeitet hat. Zum einen seien die Pfadfinder, wie viele traditionelle Jugendbewegungen, durch bündische Strukturen gekennzeichnet, in denen "bestimmte Arten von Körperkultur" gepflegt werden. Es herrsche etwa eine bestimmte pädagogische Vorstellung von Freundschaft zwischen erwachsenen Männern und Jungen, die Täter dann ausnutzten, um Beziehungen zu Jugendlichen zu sexualisieren. Zum anderen liege es in der Natur von historisch gewachsenen Organisationen wie den Pfadfindern, dass Dinge nicht nach außen getragen werden, Täter also lange darauf setzen konnten, nicht belangt zu werden. "Aufarbeitung heißt auch, das jahrzehntelange Schweigen zu brechen." Erst seit den Nullerjahren hat der Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder ein spezielles Schutzkonzept, das bei Fällen von Missbrauch greift.
Wie die Aufarbeitung geschehen soll, ist allerdings noch offen. Neben den Mitgliedern des Bunds der Pfadfinderinnen und Pfadfinder, die an diesem Morgen hinter ihren Namensschildern an einem langen Tisch sitzen, um über ihr Vorhaben zu erzählen, ist auch ein Platz mit dem Schild "Betroffene". Der Stuhl ist leer - denn es gibt kaum Betroffene, die über ihre Erlebnisse bei den Pfadfindern öffentlich gesprochen haben. Dies sei auch kein Wunder, sagt Maria Venus, denn man habe den Opfern lange nicht geglaubt. Jugendliche seien abgewiegelt worden, während die Täter weiter für die Pfadfinder arbeiten durften. Der BdP hofft nun, dass sich Betroffene melden, die dann von den Expertinnen und Experten des IPP befragt werden sollen. Man sichere allen Anonymität und Verschwiegenheit zu.