NSU-Opfer erfunden:Angeklagter Anwalt fordert Freispruch

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Betrüger oder Betrogener? Ralph W. steht in Aachen vor Gericht. (Foto: Henning Kaiser/dpa)

Er hatte ein NSU-Opfer vertreten, das es nicht gab, und dafür mehr als 200 000 Euro bekommen. Der Mann sei kein Betrüger, sondern ein Betrogener, sagt sein Verteidiger. Der Staatsanwalt sieht das anders.

Von Christian Wernicke, Aachen

Am Ende wirkt der Angeklagte, als sei er selbst am Ende. "Nee, nee", murmelt Ralph W., der beschuldigte Anwalt aus Eschweiler, und schüttelt den Kopf. Das letzte Wort, dass Melanie Theiner, die Vorsitzende Richterin am Landgericht Aachen, gerade dem Angeklagten angeboten hat, mag W. nicht mehr ergreifen. Nach dreieinhalb Stunden Plädoyer seines Verteidigers wirkt der gebeugte Mann mit dem schütteren Haar müde, ausgelaugt. Er winkt ab, schließt sich knapp "den Worten des Verteidigers an". Der hat soeben einen Freispruch für ihn gefordert: W. sei kein Betrüger, sondern selbst ein Betrogener gewesen.

Die Beweisaufnahme gegen W., der als Advokat im NSU-Terrorprozess ein Opfer vertreten hatte, das nie existierte, ist damit an diesem grauen Donnerstagvormittag abgeschlossen. Genau 211252,54 Euro hatte W. dafür von 2013 bis 2015 vom Oberlandesgericht München eingestrichen. Nach zweieinhalb Jahren fiel der Schwindel auf, seine angebliche Mandantin Meral Keskin wurde als Phantom enttarnt. Weshalb der 53-Jährige nun fürchten muss, wegen schweren Betrugs und Urkundenfälschung eine Haftstrafe plus ein Berufsverbot zu bekommen. W. trottet aus dem Saal. Er tut, was er fast immer tat seit Beginn des Prozesses im August: Er schweigt.

Geredet an diesem Donnerstag hat fast allein Peter Nickel, der Verteidiger des falschen NSU-Opfer-Advokaten. Nickel arbeitet sich lang an vielen Details ab, die vor einer Woche bereits die Staatsanwaltschaft präsentiert hatte - als Indizien für mutmaßlich betrügerische Absichten. Oberstaatsanwalt Burchard Witte hatte zwei Jahre Haft auf Bewährung sowie ein zweijähriges Berufsverbot für W. gefordert.

Der Mann habe, so der Ankläger, durch sein Verhalten "das Ansehen der Anwaltschaft in der Bundesrepublik Deutschland erheblich beschädigt". Denn da habe ein Mann der Rechtspflege vorsätzlich "das Lügengebäude" eines erfundenen NSU-Opfers genutzt, um sich durch schweren Betrug "ein längeres, auskömmliches und lukratives Auskommen" zu sichern.

"Er hätte die Gerichts-Akte nur einmal lesen müssen"

Nur, W. hatte eben nicht allein gehandelt. Er hatte einen Helfershelfer, den meist arbeitslosen Attila Ö., Dieser Ö., selbst ein wirkliches Opfer des Nagelbombenanschlags von 2004 in der Kölner Keupstraße, hatte sich anfangs das Phantom der Meral Keskin offenbar ausgedacht - und dann Anwälten als Mandantin und Eintrittskarte zum lukrativen Prozess gegen Provision angeboten. Das ist unstrittig zwischen Staatsanwalt und Verteidiger.

Nur, aus Sicht der Anklage hätte Anwalt W. eben erstens sehr früh durchschauen müssen, dass es diese Meral Keskin nie gab. Und zweitens gelte: Selbst falls W. blind war auf diesem Auge, so hätte er schon 2013 erkennen müssen, dass diese Person niemals ein Opfer des NSU-Anschlags und somit keine berechtigte Nebenklägerin im Münchner Prozess war: "Er hätte die Gerichtsakte nur einmal lesen müssen", sagte Oberstaatsanwalt Witte.

Das nun sah Verteidiger Nickel am Donnerstag völlig anders. Sein Mandant sei auf die Story des Ö. hereingefallen: "Attila Ö. war eben ein Kumpeltyp, einer, der immer eine Erklärung parat hat." Allenfalls sei ihm Nachlässigkeit vorzuwerfen. Ja, W. habe die Gerichtsakte "eher grob und stichpunktartig" überflogen. Dabei sei dem Angeklagten einfach nicht aufgefallen, dass der Name Meral Keskin nirgendwo auftauchte: nicht bei den Zeugenvernehmungen der Polizei, nicht in den Verletzten-Listen der Krankenhäuser. Alles auf Ö. abzuschieben, fällt Nickel leicht: W.'s Mittäter kann sich nicht wehren, er ist seit drei Jahren tot.

Ankläger Witte hielt dem Anwalt zudem vor, 5000 Euro aus einem Opferfonds der Bundesregierung für seine irreale Mandantin kassiert zu haben. Nickel konterte nun, W. habe dieses Geld dem Ö. gegeben - im Glauben, dass dieser die Summe an Keskin weiterreiche. Diese 5000 Euro hat Anwalt W. bis heute nicht zurückgezahlt. Die Schulden bei der Justizkasse Bayern hingegen stottert W. in monatlichen Raten von 1500 Euro ab, Restschuld 140 000 Euro.

Am Montag wird die 9. Strafkammer des Aachener Landgerichts ihr Urteil sprechen. Zwei Jahre Haft auf Bewährung - oder Freispruch aus Mangel an Beweisen? Verteidiger Nickel hat bereits vorgesorgt für den Fall, dass sein Mandant in den Augen von Richterin Theiner schuldig sein könnte. Dann will er ein psychiatrisches Gutachten beantragen. W. leide seit dem NSU-Prozess an posttraumatischen Belastungsstörungen, Depressionen - und eben an Erinnerungslücken.

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