Missbrauchsskandal in Braunau:Wie es innen aussieht, geht niemanden was an

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Der Missbrauchsfall im österreichischen Braunau wirft eine Frage auf: Warum hat niemand etwas beobachtet? Weil sich Nachbarn und Mitbürger nicht anders zu verteidigen wissen. Die wirklichen Hindernisse liegen in der geduckten Lebensführung, die in Österreich jede Aufklärung von Inzest und Familienterror erschwert.

Michael Frank

Eine ungeheuerliche Tat. Fern vom Ort des Geschehens sind Empörung und Mitleid ungeteilt. Die unmittelbare Umgebung aber reagiert eher kaltherzig, sucht sich gar Erklärungsmuster auf Kosten der Opfer zusammen. So auch in dem monströsen Fall von Inzest und familiärem Terror, der jetzt in der kleinen Gemeinde St. Peter am Hart in Oberösterreich ruchbar wurde.

Der Missbrauchsfall in St. Peter am Hart bei Braunau hätte in jeder Gesellschaft dieser Welt geschehen können. Und doch lassen sich Geheimhaltungsanstrengungen erkennen, die typisch österreichisch sind. (Foto: REUTERS)

Ein heute 80-Jähriger, so scheint es nach Erkenntnissen der Behörden festzustehen, hat sich 41 Jahre, also ein Leben lang, seine beiden geistig beeinträchtigten Töchter - heute 45 und 53 Jahre alt - und deren Mutter mit Gewalt sexuell gefügig gemacht und sie in erbärmlichen Verhältnissen in stetiger Seelenpein gehalten.

In St. Peter selbst halten nicht wenige den herrschsüchtigen Alten für unschuldig, glauben, die Töchter wollten sich an ihrem Vater wofür auch immer rächen. Aus dem Giftkeller des Gedächtnisses taucht der Fall Fritzl aus Amstetten auf: Dort hatte ein Mann seine Tochter vierundzwanzig Jahre mit ihren sieben Kindern, die er gewaltsam mit ihr zeugte, buchstäblich im Keller vermauert. Wie damals stellt sich die bange Frage: Warum hat niemand etwas beobachtet, niemand Anzeichen von körperlicher Drangsal und seelischer Not wahrgenommen, niemand Anlass zu besonderer Achtsamkeit oder gar Eingreifen gesehen?

Die Milde in St. Peter meint gar nicht den Täter, sondern ist eher Verteidigungsstrategie der Nachbarn, Zeitgenossen, Mitbürger. Ist der Fall nämlich harmlos, hat man ja nichts falsch gemacht. Sollte sich dieser Mann jedoch als das Monstrum erweisen, als das er jetzt erscheint? Die beiden Opfer standen unter amtlicher Betreuung. Der Vater war als Waffeneigner registriert. Beides verlangt regelmäßigen Behördenkontakt. Und dennoch nichts Auffälliges, nichts Anstößiges, nichts? So ein Fall könnte wohl in jeder Gesellschaft dieser Welt geschehen.

Dennoch sind da einige Spezifika, die wie im Fall Fritzl auch, zu denken geben. Nichts ist in Österreich so tabuisiert wie die Privatheit, die folgerichtig hysterischen Geheimhaltungsanstrengungen unterliegt. Hier wirken sich heute noch tradierte Schemata aus. Das alte Österreich wurde von zwei wesentlichen Kräften geprägt: vom Hof und vom Metternich'schen Spitzel- und Polizeistaat. Die Generalregel seither: die Form wahren, nichts preisgeben. Wie es innen aussieht, geht niemanden was an. Selbst jahrzehntealte Freunde haben meist niemals die Wohnung des anderen betreten. Dem steht die Sucht gegenüber, alles das vom anderen zu erfahren, was man selbst nie preisgeben würde. Doch erfährt man von Misslichem, dann ist es Sache der Etikette oder Obrigkeit, das zu bedecken, zu ändern oder zu ahnden. Es gibt keine Tradition personaler Verantwortung in der Zivilgesellschaft. Wer Übles weiß, tut gut daran, das für sich zu behalten.

Offen darüber reden? Die meisten und wichtigsten Hinweise auf Straftaten bekommt Österreichs Justiz nach wie vor über anonyme Anzeigen - wie unter Metternich. Als Folge dessen bewegen sich aber Behörden wie die Polizei oder Sozialämter stets in einem diffusen Graubereich von Verschweigen und Denunziation. Greifen sie zu beherzt zu, wütet die öffentliche Empörung ungehemmt. Die fatale Lehre daraus ist, mancher Fama besser nicht genau auf den Grund zu gehen.

Erst seit knapp zwanzig Jahren, als Hunderttausende gegen die Hasstiraden eines Jörg Haider aufzustehen begannen, üben sich Teile der österreichischen Gesellschaft in den Tugenden, offen zu bekennen und persönlich dafür einzustehen. Die geduckte Lebensführung, die möglichst perfekte Tarnung der wirklichen Überzeugungen und Absichten weichen allmählich dem Bürgermut mit offenem Visier. Hier liegen die wirklichen Hürden, die bei einem so schaurigen Verbrechen wie in St. Peter über Jahrzehnte verhindern können, dass ein gesicherter Erkenntnisstand keine Konsequenzen zeitigt.

© SZ vom 29.08.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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