Missbrauchsfall in Staufen:Blick in die Hölle

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Der wegen Kindesmissbrauchs angeklagte Markus K. sitzt im Saal des Landgerichts Freiburg, im Vordergrund seine Verteidigerin. (Foto: dpa)

Im Missbrauchsfall von Staufen hat der Hauptbeschuldigte ausgesagt - allerdings erst mal als Zeuge. Ein erster Schritt in der Aufarbeitung eines Verbrechens, das die Republik noch lange beschäftigen wird.

Von Ralf Wiegand, Freiburg, und Oliver Klasen

Christian L. ist der Hauptbeschuldigte in diesem Fall. Graue Jogginghose, weiße Sneaker, schwarzes T-Shirt, die dunklen Haare an den Seiten kurz rasiert, so erscheint er, an den Händen gefesselt, im Saal IV des Landgerichts Freiburg. Er benutzt eine sachlich-kühle Sprache, die monströsen Taten werden zu Vorgängen, zu Abläufen, fast wie in einem Polizeibericht. Keine Empathie.

L. ist an diesem Mittwoch nicht als Angeklagter geladen, sondern als Zeuge. "Als eine Art Kronzeuge", wie er Vorsitzende Richter Stefan Bürgelin sagt, bevor er von L. wissen will, warum er das überhaupt macht. "Was ist Ihre Motivation?", fragt er.

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Christian L. soll sich zu den Vorwürfen gegen Markus K.,41, äußern, dem Angeklagten im ersten Prozess, der einem der Beteiligten im Missbrauchsfall von Staufen gemacht wird. K. ist einer der Männer, denen L. und seine Lebensgefährtin Berrin T., 47, ein Kind zum Missbrauch überlassen haben., Das Kind von Berrin T., ihrem eigenen Sohn.

Warum also sagt Christian L. aus, im Tonfall eines Sachverständigen? "Ich möchte klarstellen", sagt L., "ich habe nichts angeboten bekommen. Ich habe Scheiße gebaut, das sehe ich ein. Aber ich kann es nicht rückgängig machen." Nun wolle er wenigstens, dass "die Leute aus dem Verkehr gezogen werden und dorthin kommen, wo ich auch hin muss."

Der Staufener Missbrauchsfall bringt selbst erfahrene Ermittler, die oft mit grausamen Verbrechen zu tun haben, an ihre Grenzen. Das wurde bereits deutlich bei der Verlesung der Anklageschrift in der vergangenen Woche, als Staatsanwältin Nikolai Novak mehrfach die Stimme bebte. Und es wird jetzt deutlich, bei der Befragung von Christian L. Abscheuliche Details, viel zu viele Details. Es ist wie ein Blick in die Hölle.

L. und seine Lebensgefährtin Berrin T., so haben es die Ermittler rekonstruiert und so schildert es L. selbst, haben deren Sohn von 2015 an bis September 2017 zum sexuellen Missbrauch angeboten. Sie haben den heute Neunjährigen gezielt und gegen Geld an Männer vermittelt, die das Kind dann missbrauchten, quälten, verletzten, demütigten, beleidigten, erniedrigten, filmten. Die Kontakte kamen zumeist über das Darknet zustande, dem verborgenen Teil des Internets. L. hat sich auch selbst an dem Jungen vergangen. Die Zahl der Missbräuche an dem Kind schätzt er auf "50 bis 60, ich hab` das nicht gezählt". Allein er selbst habe das Kind "vielleicht einmal pro Woche" missbraucht. Aber es habe auch Phasen gegeben, "da haben wir wie eine normale Familie gelebt, mit Schule und so".

In der JVA Freiburg lernten sich K. und L. kennen

K. hat schon zum Prozessauftakt gestanden, den Jungen zweimal missbraucht zu haben. Er ist angeklagt unter anderem wegen schweren sexuellen Missbrauchs, Vergewaltigung, Zwangsprostitution, Besitz von Kinderpornografie, Freiheitsberaubung, Beleidigung.

Anders als die anderen Männer hat K. nichts bezahlt. Er habe lediglich dem Jungen 20 Euro gegeben. Er und Markus K., so gibt Christian L. als Zeuge an, seien befreundet. Sie saßen beide wegen Kindesmissbrauchs in der JVA Freiburg ein, dort lernten sie sich 2009 kennen. L. hatte ein Mädchen missbraucht, K., einen Jungen. Sie wurden im Gefängnis in derselben therapeutischen Abteilung behandelt.

Nach der Entlassung von L. im Februar 2014 sei die Verbindung abgerissen. Im folgenden Jahr hatten sie wieder Kontakt, zunächst über Facebook. Persönlich begegnet seien sie sich in der Freiburger Zweigstelle der forensischen Ambulanz Baden, einer Therapieeinrichtung für Sexualstraftäter. "Ich war eine halbe Stunde zu früh da, da habe ich K. im Warteraum oder in so einer Art Küche getroffen", sagt L. Erst danach hätten sie intensiveren Kontakt gehabt.

Die Therapieeinrichtung als Treffpunkt zweier solch gefährlicher Sexualstraftäter, beide als schwer rückfallgefährdet eingestuft - kann das sein? Auf Anfrage der Süddeutschen Zeitung bestreiten die Verantwortlichen, dass sich K. und L. in ihren Räumen getroffen haben. Es treffe zwar zu, teilt die zuständige Einrichtung schriftlich mit, dass "mit Herrn K. und L. in der Forensischen Ambulanz Baden Therapiegespräche geführt wurden. Es trifft aber nicht zu, dass mit Herrn K. und Herrn L. an denselben Tagen Therapiegespräche geführt wurden." Alle Termine ließen sich aus den schriftlichen Aufzeichnungen rekonstruieren.

Was auch immer da schief gelaufen sein könnte: Es wäre nicht der einzige Vorgang, der verstört. Ein Kriminalbeamter, der K. im Rahmen eines speziellen Programms für Sexualstraftäter begleitete, gab am Mittwoch als Zeuge an, er habe "immer ein schlechtes Gefühl" gehabt, wenn er von K. wieder weggefahren sei. In den Gesprächen, in denen die Beamten darauf achten sollen, dass das Leben des Probanden in geregelten Bahnen verläuft, habe K. "immer das gesagt, was man gerade hören wollte".

Eine Kontrolle seiner elektronischen Geräte war nur auf freiwilliger Basis möglich, den Computer in der Wohnung der Mutter, bei der K. nach der Entlassung wieder wohnte, durften sie gar nicht anschauen. Dass sich K. über eine Bürgschaft seiner Stiefschwester ein anderes Handy besorgt hatte, erfuhren die Beamten erst, als K. einen Zettel mit seinem Namen und der Handynummer ans Auto einer Frau klebte, in dem auch ein 13-jähriger Junge saß.

Die Frau war die neue Lebensgefährtin des Vaters des Kindes, die Familie war in der Gegend im Urlaub. K. habe das Kind in einem Supermarkt verfolgt und "angestarrt". Der Junge habe geweint und gefragt "Was will der Typ bloß von mir?", erzählt die Frau, die ebenfalls als Zeugin aussagte. Der Vorfall ereignete sich 2016, die Frau hatte den Verfolger im Supermarkt zunächst nicht bemerkt. Am nächsten Tag erstattete die Familie Anzeige, K., der 2009 einen Jungen in ähnlichem Alter vergewaltigt hatte, war schnell ermittelt. K., so waren sich die Beamten sicher, hatte damit gegen seine Auflage verstoßen, sich Kindern und Jugendlichen nicht zu nähern. Das Gericht sah es anders, es sei ja eine Frau dabei gewesen, die K. für die Mutter des Jungen halten musste. Außer einer sogenannten "Gefährderansprache" hatte der vermeintliche Verstoß gegen die Führungsaufsicht keine Konsequenzen.

Der Kriminalbeamte hält das Programm, das es in Baden-Württemberg gibt, für ungeeignet, es habe "therapeutischen Charakter", sagte er vor Gericht und sei daher bei der Polizei falsch angesiedelt. Zudem sollte sich die Polizei weder beim Arbeitgeber von K. erkundigen, weil das "ein schlechtes Licht" auf den Mann werfen würde, noch die angeblich neue Freundin aufsuchen. Das mache "einen schlechten Eindruck, wenn die Polizei da auftaucht". Alles in allem ergibt sich ein Bild, dem zufolge das Wort "Führungsaufsicht", unter der K. wie auch L. standen, deutlich schärfer klingt, als sie tatsächlich war.

Fast immer war die Mutter bei den Taten anwesend

Obwohl sie irgendwie an einer Leine geführt wurden, konnten K. und L. ihr schmutziges Geschäft abwickeln - immer mit Wissen von Berrin T., der Mutter des Missbrauchsopfers. Christian L. gibt zu, dass er im Zentrum des Missbrauchs stand. Er sei derjenige gewesen, über den alle Kontakte liefen und der die Taten organisiert habe. Seiner Lebensgefährtin sei die Aufgabe zugefallen, beruhigend auf den Jungen einzureden, aber ihn wenn nötig auch einzuschüchtern und gefügig zu machen. Manche Taten, auch die zweite von K., wurden in der Wohnung der Mutter und in ihrem Beisein verübt, im Kinderzimmer des Opfers. Berrin T. habe sogar entsprechende Utensilien bereitgelegt. "Sie hat meistens gemacht, was ich will", sagt L. Und sie habe die Videos vom Missbrauchs ihres eigenen Sohnes haben wollen, weil sie das sexuell erregt habe.

Nur eines bestreitet L. in seiner Vernehmung. Er habe mit kinderpornografischen Videos kein Geld verdienen wollen, "das war nicht die Idee". Filme seien stets nur für den "persönlichen Gebrauch" der Täter angefertigt worden. Sechs dieser Täter sind bisher ermittelt. Einer von ihnen ist als "der Spanier" bekannt. Alleine ihm werden 15 Verbrechen zur Last gelegt, gegen ihn ist eben erst Anklage erhoben worden.

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An L. und seine Lebensgefährtin, so gibt L. im Gericht an, soll der Spanier beim ersten Missbrauch 10 000 Euro bezahlt haben, für jedes weitere Mal etwa 5000, beim letzten Mal 3000. Fast 80 000 Euro also. Das Kind sei extra bezahlt worden, der Junge habe von dem Mann "100 Euro aufwärts" bekommen, jedes Mal. Für seine Taten reiste der Mann aus Spanien an. Nach Bekanntwerden des Missbrauchsskandals wurde er festgenommen und im Dezember vergangenen Jahres an Deutschland ausgeliefert. Genau wie Christian L., dessen Lebensgefährtin und K. sitzt er derzeit in Untersuchungshaft.

Das Urteil gegen K. wird an diesem Donnerstag erwartet. Die Staatsanwältin wird vermutlich eine langjährige Haftstrafe und anschließende Sicherungsverwahrung fordern. Im Juni beginnt dann voraussichtlich der Prozess gegen Christian L. und seine Lebensgefährtin. Der "Spanier" dürfe kurz danach vor Gericht stehen. Es sind die ersten juristischen Schritte in der Aufarbeitung eines Missbrauchsskandals, der die Republik noch lange beschäftigen wird.

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