Gerichtsprozess:"Eine Art Blackout"

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Nebenklägerinnen und ihr Anwalt im Gerichtssaal in Stuttgart. (Foto: Marijan Murat/dpa)

Vor einem halben Jahr fallen in einem Mercedes-Werk in Sindelfingen Schüsse. Zwei Menschen sterben. Vor Gericht geht es zu Prozessbeginn vor allem um die Frage: War die Tat politisch motiviert oder nicht?

Von Max Ferstl

Für manche ist schon der Anblick des Angeklagten zu viel. Als Murat D. den Gerichtssaal betritt, das Gesicht hinter einer Aktenmappe verborgen, schluchzen einige Frauen im Publikum, zischen Männer leise Flüche. Als Murat D. über sein Leben spricht, über seine Arbeit, über einen Herzinfarkt, bricht es laut aus einer Nebenklägerin auf Türkisch hervor: "Du wirst deine gerechte Strafe erhalten", so übersetzt es ihr Anwalt später. Und als Murat D. nach dem ersten Verhandlungstag abgeführt wird, stürmt ein Mann durch die Absperrung, die die Zuschauer vom Verhandlungssaal trennt. Seine Begleiter müssen ihn aus dem Raum ziehen.

Es ist kein alltäglicher Prozess, der an diesem Donnerstag am Landgericht Stuttgart begonnen hat. Das zeigt sich schon am Eingang, wo es zwei Kontrollen gibt. Beamte fotografieren den Ausweis jedes Zuschauers. Wer in den Sitzungssaal 1 will, muss alles ablegen, was man bei sich trägt: Gürtel, Ketten, Ohrringe.

Viele Spekulationen um das Motiv der Tat

Murat D. wird vorgeworfen, vor einem halben Jahr zwei Männer im Mercedes-Werk in Sindelfingen ermordet zu haben. Gegen 7.30 Uhr sei der Angeklagte "mit zwei Arbeitskollegen in eine verbale Auseinandersetzung" geraten, sagt der Staatsanwalt, als er die Anklage vorträgt. Dabei habe er eine halbautomatische Waffe gezogen und aus kurzer Distanz auf die Opfer geschossen. Die beiden Männer erlitten mehrere Schussverletzungen im Oberkörper, der eine starb noch in der Produktionshalle, der andere später in einem Stuttgarter Krankenhaus.

Über die Gründe, weshalb D. auf seine Vorgesetzten schoss, türkische Staatsbürger wie er, hatte es in den Wochen vor dem Prozess einige Spekulationen gegeben. Mal war von einer Kündigung des Angeklagten die Rede, mal von einem Streit über die Türkeiwahl, die drei Tage nach der Tat stattfand. Und so geht es in der Verhandlung auch um die Frage, ob D. aus politischer Motivation tötete.

Der Angeklagte lässt seinen Verteidiger eine Erklärung verlesen. Darin räumt D. zunächst ein, dass er die beiden Kollegen erschossen habe. Er bereue das sehr. Dann trägt der Verteidiger vor, wie es zur Tat gekommen sei. D. sei ein Gegner des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seiner "AKP-Bewegung". Entsprechende Videos habe er im Internet verbreitet und dadurch den Hass von Erdoğan-Anhängern auf sich gezogen. Es habe Todesdrohungen gegeben, die D. auch angezeigt habe.

Die Waffe trug er seit Monaten "zu seinem Schutz"

Laut der Erklärung fühlte sich D. nicht mehr sicher, deshalb trug er in den Monaten vor der Tat eine Waffe bei sich - "zu seinem Schutz". Wegen seiner Äußerungen hätten ihn allerdings auch türkische Behörden im Visier gehabt, sagt sein Verteidiger. Zwei Verfahren würden dort gegen ihn laufen, eines wegen Beleidigung des Präsidenten, eines wegen möglicher Nähe zur sogenannten Gülen-Bewegung, die in der Türkei als Terrororganisation gilt. Aus diesem Grund sei auch D.s Reisepass nicht verlängert worden.

In Deutschland habe D. deshalb nur eine Fiktionsbescheinigung bekommen, eine Art vorläufiger Aufenthaltstitel. Diese wiederum hänge an seinem Arbeitgeber, einem Dienstleister aus Nordrhein-Westfalen. "Ohne Arbeitsplatz wäre es unmöglich gewesen, in der Nähe seiner Familie zu sein", sagt der Verteidiger. Und wer weiß, welche Repressalien ihm in der Türkei gedroht hätten, wenn er hätte zurückkehren müssen. All das, so der Verteidiger, sei der "Hintergrund, nicht der Auslöser" der Tat.

Der Auslöser war ein Streit mit den beiden Vorgesetzten, von denen sich der Angeklagte "gemobbt und gedemütigt" fühlte. Laut der Erklärung des Angeklagten ging es bei der Auseinandersetzung nicht um Politik, sondern um "das Aufladen eines Elektrowagens", später dann um D.s Arbeitsverhältnis. Eines der Opfer habe gesagt, dass D. am nächsten Tag nicht mehr zu kommen brauche. Sein Mandant habe das als Kündigung aufgefasst, sagt der Verteidiger. In dem Moment sei für ihn alles zu Ende gewesen. "Er drehte vollkommen durch, wie eine Art Blackout." Daher könne er keine Details nennen, wie er seine Waffe zog, wie er auf die Männer schoss. Erst als ihn ein Sicherheitsmitarbeiter gepackt habe, sei er zu sich gekommen.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes hieß es in der Bildunterschrift zum Foto aus dem Gerichtssaal, darauf sei der Verteidiger des Angeklagten zu sehen. Das ist falsch, abgebildet ist der Anwalt mehrerer Nebenklägerinnen und Nebenkläger. Wir bitten, diesen Fehler zu entschuldigen.

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