Flut in Libyen:"Meine Schwester, ihre Tochter und deren Töchter, alle tot"

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Nach der Flut: Ein Mann schaut in Derna auf zerstörte Autos. (Foto: Esam Omran al-Fetori/Reuters)

In Libyen hat eine Flutwelle Familien überrascht und ganze Viertel verwüstet, die Bürgersteige sind mit Leichen übersät. Nun melden sich immer mehr Überlebende zu Wort.

Von Dunja Ramadan

Die Menschen in der libyschen Hafenstadt Derna blicken ins bräunlich schäumende Mittelmeer und zeigen auf dunkle Punkte, die von den Wellen immer wieder hochgespült werden. Sie rufen: "Da ist ein Kopf" und "da ist noch ein Körper", wie Videos in den sozialen Netzwerken zeigen. Am Mittwoch wurden zahlreiche Leichen an die Küste der Stadt geschwemmt. Abdulhamid Dbeiba, Ministerpräsident im politisch zerrütteten Libyen, verspricht, diese Leichen zu bergen. Die libysche Marine, Taucher und Kampfschwimmer seien im Einsatz.

In der Nacht zum Sonntag ist der Osten Libyens vom Sturmtief Daniel, das bereits weite Teile Griechenlands verwüstete, getroffen worden. Mittlerweile geht man in dem Land von mehr als 5000 Toten und rund 10 000 Menschen aus, die noch vermisst werden. Der Al-Jazeera-Journalist Ahmed Khalifa, der als einer der wenigen Medienvertreter in dem politisch instabilen Land ist, bricht bei einer Liveübertragung in Tränen aus, als er das Schicksal eines alten Mannes schildert, der seinen einzigen Sohn in den Fluten verlor.

Als Khalifa sich wieder fängt, erzählt er von einer Infrastruktur, die auf diese Wassermassen in keiner Weise vorbereitet war - bereits vor dem Sturz des Langzeitherrschers Muammar al-Gaddafi war vieles marode, die politischen Unruhen der vergangenen Jahrzehnte haben jegliche Modernisierung verhindert. Khalifa spricht von einem tsunamiartigen Schwall Wasser, der ganze Familien überrascht, ganze Viertel verwüstet hat. Die Hafenstadt Derna ist besonders schwer betroffen, nachdem zwei Staudämme in der Nacht von Sonntag auf Montag gebrochen sind.

"Die Hilfsbereitschaft innerhalb des Landes ist riesig, aber die Frage ist, wie die Freiwilligen in die betroffenen Gebiete kommen"

Mittlerweile melden sich auch immer mehr Überlebende zu Wort. Sie filmen Bürgersteige, die mit Leichen übersät sind. Kleine Kinder stehen mitten in dieser Szene, ein Mann zündet sich eine Zigarette an, andere sitzen auf dem Boden, starren ins Leere. Manche heben vorsichtig die Decken an, in die die leblosen Körper gehüllt sind, um zumindest Gewissheit zu haben.

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"Meine Schwester, ihre Tochter und deren Töchter, alle tot. Zwölf Menschen, was für eine Katastrophe, im wahrsten Sinne des Wortes, eine Katastrophe", sagt ein Überlebender dem libyschen Fernsehsender al-Masar. Er ist umgeben von Helfern, die versuchen, ihn zu beruhigen, sie rufen das muslimische Glaubensbekenntnis, es gibt keinen Gott außer Gott, doch sie schaffen es nicht, er bricht zusammen, ruft mehrmals "Katastrophe", wird von den Umstehenden umarmt, manche weinen mit.

Wer versucht, jemanden im Land zu erreichen, der landet in der weniger betroffenen zweitgrößten Stadt des Landes, Bengasi. Mohammed Hilani hat drei Lagerhallen provisorisch mit Decken und Kissen ausgestattet, um die freiwilligen Helfer zu versorgen. Sie stünden natürlich auch den Geflüchteten aus den Katastrophengebieten zur Verfügung, doch bislang hat es kaum einer bis hierher geschafft, erzählt der 42-Jährige am Telefon. Also habe er am Morgen 300 Menschen mit Brot, Käse und Saft versorgt, die nun auf dem Weg nach Derna und Susah, einer weiteren betroffenen Stadt im Osten, seien. "Die Hilfsbereitschaft innerhalb des Landes ist riesig, aber die Frage ist, wie die Freiwilligen in die betroffenen Gebiete kommen", sagt Hilani, der aus Syrien stammt und seit 1994 in Libyen lebt. Zahlreiche Straßen seien nicht mehr befahrbar.

Dass kaum Helfer ankommen, merken auch die Menschen in den östlichen Gebieten. Ein Mann in schwarzem T-Shirt steht mitten in einer verwüsteten Wohngegend in Derna, umgeben von Trümmern, er zeigt in alle Himmelsrichtungen. "Hier lebten meine Nachbarn, meine Geschwister, meine Lieblinge, meine Leute. Nun liegen sie alle unter diesen Trümmern, Frauen mit ihren Kindern", sagt er dem Fernsehsender al-Masar. Er tippt sich an die Nase. "Man riecht es doch." Das Einzige, was er wolle, seien anpackende Hände, damit all diese Menschen endlich Ruhe finden können.

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