Kriminalität:Plötzlich Feministin: Ein Aufschrei von unerwarteter Seite

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Berlin (dpa) - "Widerwärtig!" "Abscheulich!" Diese Worte haben seit Jahresbeginn viele gewählt, um die Übergriffe am Kölner Hauptbahnhof zu beschreiben. Die sexualisierte Gewalt empört die Menschen in Deutschland.

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Berlin (dpa) - „Widerwärtig!“ „Abscheulich!“ Diese Worte haben seit Jahresbeginn viele gewählt, um die Übergriffe am Kölner Hauptbahnhof zu beschreiben. Die sexualisierte Gewalt empört die Menschen in Deutschland.

Für einige aber nicht genug: „Massive sexuelle Nötigungen in Köln - aber der #aufschrei schweigt“, schreibt die Publizistin Birgit Kelle auf Twitter. Auch andere sagen: Wo bleibt der erneute Aufschrei? Der Vorwurf: Das feministische Netz bleibe stumm - weil viele der Tatverdächtigen nach Zeugenangaben einen Migrationshintergrund haben.

„Der Vorwurf ist natürlich völlig unhaltbar, weil sexualisierte Gewalt letztendlich das ganze Jahr über von Feministinnen kritisiert wird“, hält die Netzfeministin Anne Wizorek den Kritikern von heute entgegen, die nach Köln die schweigenden Feministinnen anprangern.

Und doch erheben jetzt Feministen mit einer neuen Aktion erneut ihre Stimme: Unter dem Hashtag #ausnahmslos solidarisierten sich im Kurznachrichtendienst Twitter zahlreiche Menschen mit dem Aufruf „Gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus. Immer. Überall. #ausnahmslos“, den 23 Feministen - darunter Wizorek - verfassten.

Wizorek hatte vor drei Jahren die Twitter-Kampagne #aufschrei angestoßen. Frauen berichteten unter diesem Hashtag über Sexismus-Erfahrungen, Belästigungen und sexualisierte Gewalt im Alltag. Über sexistische Blicke und Sprüche, Angrapschen und Benachteiligung, über Übergriffe.

Damals hätten gerade diejenigen, die jetzt behaupten, es gebe keine feministische Kritik nach den Vorfällen in Köln, die Erfahrungen der Frauen heruntergespielt, kritisiert die Netzfeministin Wizorek. Birgit Kelles Antwort auf die Aufschrei-Debatte vor rund drei Jahren war ihr Buch mit dem Titel „Dann mach doch die Bluse zu“.

Auch die Münchner Geschlechterforscherin Paula-Irene Villa findet den Vorwurf von Kelle und Co. scheinheilig. Es sei einfach Quatsch, zu behaupten, es hätte keine Kommentare von den jungen Netzfeministinnen gegeben. Sie warnt vor etwas ganz anderem: „Ich sehe die Gefahr, dass ein Pseudo-Feminismus für Rassismus missbraucht wird.“ Das Leid der Opfer werde so für eine politische Agenda instrumentalisiert.

Die Initiatoren und Unterstützer der #ausnahmslos-Kampagne sprechen sich gegen eben diese Instrumentalisierung aus. In der Erklärung heißt es: „Es ist für alle schädlich, wenn feministische Anliegen von Populist_innen instrumentalisiert werden, um gegen einzelne Bevölkerungsgruppen zu hetzen, wie das aktuell in der Debatte um die Silvesternacht getan wird.“ Zu den Unterzeichnern gehört Familienministerin Manuela Schwesig (SPD), zu den Solidarischen auf Twitter Bundesjustizminister Maas (SPD).

Denn tatsächlich verknüpften nach Köln einige Frauenrechte mit der Asyldebatte: „Aha, Verhaltensrechte für Frauen. Wie wärs mit Burka“, twittert die konservative CDU-Politikerin Erika Steinbach. Und die frühere Familienministerin Kristina Schröder findet: „Sie wurden lang tabuisiert, aber wir müssen uns mit gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen in muslimischer Kultur auseinandersetzen.“ Dabei schrieb sie als Antwort auf den Feminismus vor knapp vier Jahren ein Buch. Es heißt: „Danke, emanzipiert sind wir selber.“

Wizorek fordert, dass sexualisierte Gewalt nicht nur ein Thema sein darf, wenn es um Täter mit Migrationshintergrund geht. „Wir müssen das als gesamtgesellschaftliches Problem betrachten“, verlangt sie. Jeder Übergriff sei einer zu viel - egal, von wem er ausgeübt wird. „Das gilt natürlich genauso für die Fälle von Köln.“

Positiv sei, dass den Betroffenen geglaubt werde. Das sei eine wichtige Botschaft für andere Betroffene. „Es zeigt ihnen, dass sie sich Hilfe holen können und nicht schuld sind.“

Geschlechterforscherin Villa glaubt, dass die Debatte einen produktiven Verlauf nehmen kann - wenn sie nicht nur darauf reduziert wird, dass es offenbar um muslimische Männer oder Einwanderer geht.

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