Der Kiez ist in den Tagen nach den Schüssen weitgehend wie immer, sofern man das richtig überblickt. Vielleicht ein bisschen mehr Polizei, kann aber täuschen. Ansonsten: Touristen, Abgestürzte, schwere Jungs, alle noch da. "365 Tage im Jahr geöffnet, ihr könnt hier jeden Tag shoppen, auch an Weihnachten und Neujahr", erläutert eine heitere Fremdenführerin ihrer Gruppe. Sie meint den Erotikladen hinter sich. "Scheißjob", sagt ein paar Ecken weiter eine Passantin zu ihrer Begleiterin. Sie meint die Frauen auf der Suche nach Kundschaft.
Sexshops, Bordelle, Spelunken, Lokale, Spielhallen, Theater, Davidwache, alles wie üblich. Reeperbahn halt, St. Pauli. Weltberühmt, manchen bereits zu gentrifiziert, anderen noch zu versifft, jedenfalls stets irgendwie speziell und vielleicht irgendwann Weltkulturerbe. Es gibt auf der Amüsiermeile auch wie gehabt einen Gunshop mit Baseballschlägern und Revolvern im Schaufenster. Obwohl da außerdem diese gelben Schilder mit den durchgestrichenen Messern und Pistolen an Masten hängen. "Waffen verboten", steht drauf und: "Zu ihrer Sicherheit wird dieser Bereich videoüberwacht!"

Hamburg:Der Kern von St. Pauli
Ist es möglich, die gute, alte Reeperbahn zurückzuholen - und sie als immaterielles Unesco-Weltkulturerbe schützen lassen? Eine Initiative versucht es. Über die Frage, was das St.-Pauli-Gefühl ausmacht.
Die Warnungen und Geschichten lassen das Quartier für Fremde außer verrucht auch ein wenig unheimlich erscheinen, Thriller gehören zum Ruf. Aber am späten Sonntagabend wurde es mal wieder ernst, todernst, wie in übelsten Zeiten. Vor dem Heiligengeistfeld, wo der FC St. Pauli spielt und das Volksfest Hamburger Dom stattfindet, hielt Dariusch F. an einer Ampel. Er saß in seinem weißen Bentley, Leute wie er schätzen auffällige Marken. Um kurz vor Mitternacht trafen ihn fünf Kugeln aus einem unbekannten Fahrzeug neben ihm.
Projektile drangen in seinen Körper ein, ein Querschläger erwischte die Fassade der Bar Zwick. Fußgänger und Autofahrer bekamen den Angriff auf offener Straße mit. Fotos zeigen Blut am Luxusauto, im Hintergrund das Riesenrad vom Jahrmarkt. Polizisten sperrten ab, Experten von Mordkommission und der Abteilung für Milieu-Kriminalität suchten den Tatort ab. 20 Streifenwagen fahndeten nach dem Schützen, erfolglos. Der Schwerverletzte wurde notoperiert und gerettet, wobei nicht klar ist, welche Schäden ihm bleiben. Unklar ist, ob er wieder wird laufen können.
"Versuchtes Tötungsdelikt", notiert die Polizei. Erst neun und nun sechs Beamte bewachen den Paten und Patienten in der Klinik St. Georg. Denn es geht um einen Rockerboss. Und um Fragen: Warum? Was passiert als nächstes? Dariusch F. ist 38 Jahre alt und gilt als örtlicher Anführer der Hells Angels, die offenbar manches auf dem Kiez kontrollieren.
In Hamburg sind die Höllenengel mit ihren Motorrädern und Kutten seit 1986 verboten, aber im Untergrund sehr aktiv, unter anderem in der Rotlichtszene. Im Herbst 2015 wollten die Erzfeinde der Mongols an die Macht und scheiterten. Ihrem Anführer Erkan U. wurde im Viertel Hoheluft ein Sprengsatz am orangefarbenen Lamborghini gezündet, wie bei der Mafia. Später holte ihn eine Eliteeinheit mit Blendgranaten aus einem Penthouse. Er sitzt inzwischen im Gefängnis. Unter die Augen hat er sich Tränen tätowieren lassen.
Fundstücke aus der Halbwelt des organisierten Verbrechens
Nach einer Schießerei mit verletzten Mongols in einem Taxi Anfang des Jahres 2016 in Altona gründete die Hamburger Polizei die Sonderkommission "Rocker". Im Februar und im Juli 2018 durchsuchte die Soko Wohnungen der Hells Angels, Verdacht: Drogenhandel. Sie entdeckte Munition, Testosteron, Bargeld und andere Fundstücke aus der Halbwelt des organisierten Verbrechens.
Im August wurde eine Massenschlägerei in Schleswig-Holstein bekannt, eine Augenzeugin berichtete von Schlagringen und Gas, "das glich einem Gemetzel aus einem schlechten Action-Film". Jetzt also ein neuer Bandenkrieg auf St. Pauli, wie früher?
Vom angeschossenen Dariusch F., genannt Dari, sind Bruchstücke einer offenbar turbulenten Vita im Umlauf. Jugendheim, Scharfschütze bei der Bundeswehr, Kampfsportler - Beiname "Der Schlächter", wie die Hamburger Morgenpost berichtet. Angeblich besitzt er mehrere Sportwagen und Etablissements. Er soll vor Jahren mitten auf der Straße 17-mal in die Luft gefeuert haben, vor der Polizei, das scheint ihm zwei Jahre Haft auf Bewährung eingebracht zu haben. Und nun wollte ihn offenkundig jemand umbringen. Wer? Wieso?
Der Fall Dariusch F. erinnert an eine Vergangenheit mit Schießereien, an Zuhältergangs wie Nutella und GmbH, an Killer wie Werner alias "Mucki" Pinzner, die Schlacht um Rauschgift und Frauen. Vielleicht schossen Rivalen auf F., vielleicht ehemalige Freunde der Hells Angels wegen eines Pokerspiels um viel Geld. Gerüchte wabern. Verbündete schwören Rache. Ein Tourguide am Kiez zeigt derweil auf das Denkmal von Hans Albers und rät seinen Gästen, "man soll ja auch die Kultur nicht vergessen."