Sexueller Missbrauch:Wenn sich die Kirche über den Rechtsstaat stellt

Herbstvollversammlung Deutsche Bischofskonferenz

Die Mitglieder der Deutschen Bischofskonferenz beim Gottesdienst in Fulda.

(Foto: dpa)
  • Laut einem Bericht der katholischen Kirche haben in Deutschland 1670 katholische Geistliche 3677 meist männliche Minderjährige in den Jahren von 1946 bis 2014 sexuell missbraucht.
  • Bis heute entscheiden die Bistümer meist selbst, ob sie Anklage in einem der Fälle erheben.
  • Die niedersächsische Justizministerin Barbara Havliza (CDU) fordert von der Kirche Einsicht in die Akten zu den Fällen, denn Aufklärung sei "selbstverständlich Aufgabe der Justiz und nicht der Kirche".

Von Ronen Steinke

Schön und gut, wenn die Kirchen den sexuellen Missbrauch durch ihre Mitarbeiter aufklären wollen; besser wäre es, sie würden das den Staatsanwälten für Sexualdelikte ermöglichen. Schön und gut auch, wenn die Kirchen von "schmerzhafter" Aufarbeitung sprechen, die sie jetzt betreiben würden; besser wäre es, die zuständigen Institutionen des Rechtsstaats könnten sich dazu ihre eigene Meinung bilden. So in etwa darf man sich die Reaktion der niedersächsischen Justizministerin Barbara Havliza (CDU) vorstellen, einer langjährigen Strafrichterin, als sie im Oktober den Missbrauchsbericht der katholischen Bischofskonferenz las.

In dem Bericht war von 1670 katholischen Geistlichen die Rede, zwischen 1946 und 2014 sollen sie 3677 meist männliche Minderjährige sexuell missbraucht haben. Auch niedersächsische Fälle waren aufgeführt. Fälle, von denen die niedersächsische Justiz teils noch gar nichts wusste. Die Kirche hatte keine Anzeige erstattet. Auch jetzt nannte sie keine Täter. Sie legte die Namen nicht offen. Die umfassende Aufklärung der im Raum stehenden Vorwürfe sei "selbstverständlich Aufgabe der Justiz und nicht der Kirche", erklärte die Justizministerin Havliza daraufhin verärgert - und verlangte Akteneinsicht.

Es irritiert Havliza, so sagt sie, wenn der Eindruck entstehe, es liege an der Kirche, für die Aufklärung dieser Straftaten die richtigen Maßstäbe zu entwickeln. Und nicht etwa am Rechtsstaat, die Maßstäbe anzulegen, die längst entwickelt sind und für alle Straftatverdächtigen gelten, egal ob mit Soutane, Mönchshabit oder ohne: nämlich Strafprozessordnung und Strafgesetzbuch. "Für die Staatsanwaltschaften macht es keinen Unterschied, ob die Beschuldigten Priester, Feuerwehrleute oder Lehrer sind." Keine Berufsgruppe habe das Recht, die Aufklärung von Straftaten in Eigenregie zu regeln.

Bei anderen großen Institutionen rückt die Staatsanwaltschaft durchaus mit Durchsuchungsbefehlen an, um sich Akten und Beweismittel zu besorgen, auch um eine mögliche Vertuschung zu verhindern. Das hat es zuletzt bei VW gegeben. Beim DFB. Oder bei der Deutschen Bank. Bei den beiden Amtskirchen hat es das noch nie gegeben in Deutschland, obwohl die Sexualdelikte, um die es dort geht, schwer wiegen. Im November, kurz nach dem Erscheinen des Missbrauchsberichts der Bischofskonferenz, hat es ein Treffen der wichtigsten Strafverfolger aus dem Bundesgebiet gegeben, alle 23 Generalstaatsanwälte kamen zusammen. Ihr Thema: Wie kann der Staat in diese Ermittlungen einsteigen? Vor allem die drei bayerischen Generalstaatsanwälte warben dort für einen pfleglichen Umgang mit den Kirchen, so erinnern sich Teilnehmer aus mehreren Bundesländern. Man wolle bitte keinen Krawall in die Bistümer hineintragen, keine Eskalation; keine juristische Kavallerie, die den Bischöfen die Türen einrennt.

In vielen Fällen stellt sich die Frage, ob die Taten nicht längst verjährt sind

Nach ihrem Treffen sind die Generalstaatsanwälte ausgeschwärmt. Sie hatten verabredet, allen 27 Bischöfen in der Republik einen persönlichen Besuch abzustatten. In Niedersachsen fuhr die Ministerin persönlich zu den drei Bischöfen in ihrem Bundesland. Barbara Havliza spricht von "deutlichen Gesprächen", in denen klar geworden sei, "dass es auch der Kirche nicht guttut, wenn sie die Akten nicht umfänglich herausgibt". In München dagegen behelligte der Generalstaatsanwalt keine Bischöfe, sondern nur deren Verwaltungsleute. Er habe "keine Showtermine" machen wollen, sagt der Generalstaatsanwalt. In Nordrhein-Westfalen gab es Treffen zwischen Justiz und Bischöfen. Es ging aber nie um Zwang, so betont das Justizministerium. "Nach geltender Rechtslage gibt es in Deutschland keine allgemeine Pflicht zur Anzeige von Straftaten. Auf eine Anzeigenerstattung gerichtete staatliche Zwangsmaßnahmen gegenüber der Kirche scheiden daher aus."

Wenn man sich heute in den Bundesländern umhört, dann gibt es vielerorts ein erstes, vorsichtiges Lob für die Kooperationsbereitschaft der Bistümer. Der Erzbischof von Berlin hat eine renommierte Strafverteidigerkanzlei beauftragt, um den Kontakt zur Justiz zu halten; auch andernorts ist man im ständigen Dialog. Es geht viel um Fragen der Verjährung. Viele Taten liegen weit zurück. Wenn die Bistümer ihre Giftschränke öffnen und die alten Akten hervorholen, dann stellt sich immer die Frage, ob diese Taten noch verfolgt werden können. Das sind diffizile Fragen, weil sich das Sexualstrafrecht stark gewandelt hat über die Jahre. Bislang ist es vielerorts so, dass die Bistümer eigenständig entscheiden: Nur wenn sie finden, dass eine Tat nicht verjährt sei, geben sie die für die Missbrauchsstudie verwendeten Personalakten heraus. Die großen Bistümer haben das schon einige Dutzend Mal getan, das Bistum Osnabrück etwa hat seit November 35 Akten herausgegeben, das Bistum Augsburg mehr als 80. Die Entscheidung aber lag bei ihnen.

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