Justizskandal in Norwegen:Zwei Jahrzehnte unschuldig im Gefängnis

Lesezeit: 3 min

Die norwegische Polizei hat sich wie auch die Staatsanwaltschaft bei dem mehr als 20 Jahre inhaftierten Viggo Kristiansen entschuldigt. (Foto: Marit Hommedal/AFP)

Wegen Vergewaltigung und Mordes zweier Mädchen war Viggo Kristiansen 2001 verurteilt worden. Jetzt hat die Staatsanwaltschaft alle Vorwürfe fallen lassen und sich bei ihm entschuldigt. In Norwegen spricht man vom größten Justizskandal der Nachkriegsgeschichte.

Von Kerstin Lottritz

Viggo Kristiansen hat fast sein gesamtes Erwachsenenleben im Gefängnis verbracht. Für ein Verbrechen, von dem er immer gesagt hat, dass er es nicht begangen habe. Seit 2001 war er inhaftiert, weil er zwei acht und zehn Jahre alten Mädchen vergewaltigt und danach mit einem Messer getötet haben soll, zusammen mit seinem Freund Jan Helge Andersen, der ihn in den Ermittlungen schwer belastete.

Kristiansen hatte in all den Jahren immer wieder bestritten, mit dem Verbrechen überhaupt etwas zu tun zu haben. Am Freitagmittag bekam der 43 Jahre alte Mann dann die Nachricht, auf die er seit mehr als 20 Jahren gewartet hatte: Die norwegische Staatsanwaltschaft lässt alle Vorwürfe gegen ihn fallen und hat beim Berufungsgericht beantragt, ihn freizusprechen. Generalstaatsanwalt Jørn Sigurd Maurud entschuldigte sich bei einer Pressekonferenz ausdrücklich für die "begangene Ungerechtigkeit".

Vier Monate suchten die Ermittler nach dem Täter

Am 19. Mai 2000 waren die beiden Mädchen Lena Sløgedal Paulsen und Stine Sofie Sørstrønen bei einem Ausflug an einen Badesee in dem Freizeitgebiet Baneheia verschwunden, zwei Tage später wurden ihre Leichen gefunden. Die Suche nach dem Täter, der die beiden Mädchen vergewaltigt und danach mit einem Messer getötet hatte, dauerte den ganzen Sommer über an. Im September wurden zwei Männer festgenommen: Jan Helge Andersen und sein Freund Viggo Kristiansen.

Anderson gab die Vergewaltigung und einen Mord zu, beschuldigte aber Kristiansen als Initiator des Verbrechens. Aufgrund seiner Aussage wurde Kristiansen am 1. Juni 2021 zu 21 Jahren mit Option zur Sicherheitsverwahrung verurteilt. Anderson selbst wurde zwar auch wegen Vergewaltigung und Mordes verurteilt, allerdings bekam er wegen seiner Kooperation mit den Ermittlern eine geringere Strafe und ist seit einigen Jahren wieder frei.

Viggo Kristiansen hatte sowohl während der Ermittlungen als auch des Prozesses bestritten, überhaupt am Tatort gewesen zu sein. Sein Handy war zum Tatzeitpunkt etwa 900 Meter entfernt eingeloggt gewesen. Doch die belastende Aussage seines Freundes und die Tatsache, dass er in seiner Jugend wiederholt wegen sexueller Belästigung und einmal wegen Vergewaltigung eines minderjährigen Mädchens verurteilt wurde, belasteten ihn. Zudem konnte die sichergestellten DNA-Spuren damals nur beweisen, dass zwei verschiedene Männer die Mädchen vergewaltigt hatten.

DNA-Spuren sprechen heute gegen die These von mehreren Tätern

Fünf Mal beantragte Kristiansen während seiner zwei Jahrzehnte andauernden Haft die Wiederaufnahme seines Verfahrens. Gutachter bescheinigten immer wieder, dass er nach wie vor gefährlich sei und so wurde die Mindeststrafe von zehn Jahren immer wieder verlängert. Erst im vergangenen Jahr kamen erhebliche Zweifel an Andersens Aussage auf. Und auch die DNA-Spuren, die man nun besser untersuchen konnte, sprachen gegen die These von mehreren Tätern.

Kristiansen kam im Juni 2021 auf Bewährung frei. Seitdem untersuchte die Polizei in Oslo die Baneheia-Morde erneut - bis Generalstaatsanwalt Jørn Sigurd Maurud schließlich am Freitag verkündete, dass alle Vorwürfe gegen Kristiansen fallen gelassen werden. Der offizielle Freispruch durch ein Gericht steht noch aus, doch dürfte es sich dabei nur noch um eine Formalität halten.

Kristiansen könnte mehr als drei Millionen Euro fordern

Der Fall "hatte zutiefst tragische Folgen, insbesondere für Viggo Kristiansen, der mehr als 20 Jahre Haft verbüßte und damit großer Teile seines Lebens beraubt wurde, und für seine Angehörigen", so Maurud. Die Tageszeitung Aftenposten bezeichnete den Baneheia-Fall als den "größten Justizskandal der Nachkriegszeit". "Das Einzige, was wir, die Gesellschaft, anbieten können, ist eine Entschädigung in Form von Geld", sagte Maurud. Dem Anwalt des 43-jährigen Kristiansen zufolge könne sein Mandant vom norwegischen Staat umgerechnet mehr als drei Millionen Euro an Wiedergutmachung fordern.

Dem gegenüber steht, dass Kristiansen laut Urteil von 2002 den Hinterbliebenen der beiden getöteten Mädchen eigentlich eine Entschädigung von umgerechnet fast 165 000 Euro zahlen müsste. Sein Anwalt teilte aber laut der Tageszeitung Verdens Gang am Samstag mit, dass sein Mandant die Summe nicht bezahlen werde: "Viggo Kristiansen kann keine Strafe absitzen und Geld zahlen für etwas, das er nicht getan hat."

Bestehen die Eltern auf die Entschädigung, kommt es zu einem neuen Verfahren. Dieses Mal ein Zivilverfahren, bei dem Viggo Kristiansen seine Unschuld erneut beweisen müsste. Auch wenn jetzt, wie Generalstaatsanwalt Maurud angekündigt hat, erneut gegen Jan Helge Andersen ermittelt werden soll, bleibt der Mord an Lena Sløgedal Paulsen und Stine Sofie Sørstrønen vorerst ungeklärt und deren Eltern haben auch nach 22 Jahren noch immer keine Gewissheit, was damals in Baneheia eigentlich passiert ist.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Berufungsprozess im Fall Boateng
:"Presse waren die nicht"

Der Richter befragt eine Augenzeugin zu den Vorwürfen gegen Jérôme Boateng. Doch die stockt immer mehr, erzählt, dass sie Angst habe. Sie sei vor dem Gebäude gefilmt worden - von den Bodyguards des Angeklagten.

Von Lena Kampf und Jana Stegemann

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: