Grubenunglück von Lengede:Auferstehung nach der Totenglocke

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Die chilenischen Kumpel sind mit ihrem Trauma nicht allein: Auch in Lengede glaubte kaum jemand an ein glückliches Ende. Mit pionierhafter Ingenieurskunst konnten die Bergleute zurückgeholt werden - ein Mythos war geboren.

Hans Leyendecker

Die Totenglocken hatten schon geläutet, die Todesanzeigen waren bereits gesetzt, und die traurigen Helfer, die von überallher gekommen waren, hatten ihre aufwendigen Geräte längst abgebaut. Für den 4. November 1963 war in der mit schwarzem Stoff drapierten Mehrzweckhalle zu Lengede eine Trauerfeier anberaumt worden. Zwei Bischöfe und ein Minister sollten Gedenkreden halten. Enden sollte die Feier mit dem Lied "Ich hatt' einen Kameraden", das sie immer spielten, wenn wieder einer von ihnen unten geblieben war. Diesmal waren ganz viele in Lengede unten geblieben.

Die Rettungsaktion nach dem Bergwerk-Unglück in Lengede 1963 war ähnlich dramatisch wie jetzt die Befreiung der eingeschlossenen chilenischen Bergleute. Die "Dahlbusch-Bombe", mit der die Kumpel nach oben geholt wurden, wurde später von Minen in aller Welt als Rettungsgerät kopiert. (Foto: dpa)

Am 24. Oktober war der Klärteich 12 der Eisenerzgrube Lengede-Broistedt gebrochen (Schacht Mathilde), und 500 Millionen Liter Wasser und Schlamm hatten sich in die Grube ergossen. 129 Bergleute waren unter Tage gewesen und hatten um ihr Leben gekämpft. Vierzig von ihnen, so schien es, würden für immer unten bleiben müssen.

Doch dann geschah das, was noch heute Menschen bewegt. Obwohl die Lage für die Vermissten aussichtslos zu sein schien, hatte ein Hauer, dessen langjähriger Schlepper unter den Totgesagten war, die Bergwerksleitung überreden können, noch einmal nach den Verschütteten zu bohren. Eine abgebaute Erzstrecke, die sie in Lengede "alter Mann" nannten, könnte für Überlebende ein Zufluchtsort sein: "Ausgeschlossen, dass da noch was ist", soll der Hüttendirektor gesagt haben. Und dann: "Aber wir bohren."

Die Retter klopften im "1-2, 1-2-3"- Rhythmus Signale in die Tiefe des Bohrlochs, das irgendwo im Gebiet des alten Manns vermutet wurde. Viele Bohrungen waren vorher ins Leere gegangen. Dann kam von unten die Antwort: "1-2, 1-2-3." "Wer ist unten?" Es waren noch elf. Oben war, wie der Daily Mirror schrieb, "die ganze Welt".

Was damals vor 47 Jahren in Lengede passierte, ist zu einem deutschen Mythos geworden: Er kündet von der Kameradschaft tapferer Kumpel, von deutscher Ingenieurskunst und Tüchtigkeit, die sich auch in den bittersten Stunden bewährt.

Der Sat-1-Film "Das Wunder von Lengede" mit den Hauptdarstellern Jan Josef Liefers und Heino Ferch rührte 2003 das deutsche Fernsehpublikum.

"Alle deutschen Herzen sind bei Ihnen"

Die Rettung der Kumpel wurde damals, ähnlich wie jetzt in Chile, zu einem nationalen Projekt. Bundeskanzler Ludwig Erhard kam mit dem Hubschrauber angeflogen. Er sprach über Mikrofon hinunter zu den Männern, die in rund 60 Meter kauerten: "Meine lieben deutschen Landsleute. Ich glaube, alle deutschen Herzen sind im Augenblick bei Ihnen." "Haben gut verstanden", tönte es zurück.

Auf einem Acker neben dem Bohrloch kampierte die Weltpresse. 365 Reporter der Printmedien konkurrierten mit 83 Reportern und Technikern von Rundfunk und Fernsehen um die besten Geschichten. Der damals junge Journalist Gerhard Mauz, der später als Gerichtsreporter eine Berühmtheit wurde, saß acht Tage und Nächte fünf Meter neben dem Bohrloch und gab vom Rücksitz seines Uralt-Käfers seine Berichte durch. Das Telefon hatte er dem Bahnhofswirt abgeschwatzt.

Selbst aus Kanada war ein Team angereist, und Bild druckte für die Eingeschlossenen eine Unter-Tage-Sonderausgabe, in der keine schlimmen Nachrichten enthalten waren. Später titelte das Blatt "Gott hat mitgeholfen". (Eigentlich sollte die Zeile heißen: "Gott hat mitgebohrt"). Tag für Tag gab es Sondersendungen aus Lengede; das Fernsehen berichtete selbst dann, wenn es keine Neuigkeiten gab.

Auch damals bestand der Rettungsplan darin, ein gut sechzig Zentimeter breites Loch zu bohren, durch das die Kumpel befreit werden sollten. Die Retter mussten vorsichtig sein, denn das Gestein über dem "alten Mann" war sehr mürbe. Über eine Versorgungsleitung erhielten die elf Eingeschlossenen Kleidungsstücke, Tee und Nahrung in Tüten, aber auch dünnes Eisengestänge und Plastikfolien, um sich vor dem immer wieder prasselnden Gestein zu schützen. Minox-Kameras wurden durch die Röhre geschickt, damit die Bergleute Bilder aufnehmen konnten, die den Rettern Rückschlüsse auf die Beschaffenheit unter Tage ermöglichten.

Herausgeholt wurden sie dann einer nach dem anderen mit der "Dahlbusch-Bombe", die erstmals 1955 auf der Grube "Dahlbusch" in Gelsenkirchen eingesetzt worden war. Jede Fahrt dauerte in Lengede acht Minuten. Oben wartete wirklich die Welt. Zechen in aller Welt kopierten das Rettungsgerät.

1977 wurde die Erzförderung in Lengede eingestellt. Eine Tafel auf dem Grubengelände erinnert an die 29 Bergleute, die unten bleiben mussten: "Wir konnten sie nicht mehr bergen. Gott gebe ihnen Frieden." Acht der Geretteten leben noch.

© SZ vom 13.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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