Grubenunglück in Soma:Warum türkische Kohleminen Todesfallen sind

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Auf dem Friedhof von Soma wurden Gräber für die getöteten Minenarbeiter ausgehoben. (Foto: REUTERS)

"Solche Unglücke passieren ständig", sagt Premier Erdoğan und führt Bergbauunfälle auf der ganzen Welt als Beweis an. Doch Statistiken zeigen, dass in der Türkei besonders viele Kumpel ums Leben kommen. Die Kohlegruben sind die gefährlichsten der Welt.

Von Felicitas Kock und Hakan Tanriverdi

Das Grubenunglück in Soma mit mehr als 280 Toten? Eine schlimme Sache, findet Recep Tayyip Erdoğan. Aber auch nichts Besonderes. Wo gehobelt wird, fallen Späne - und wo Bergbau betrieben wird, sterben eben Menschen, so die Logik des türkischen Premiers. Als Beispiele führt er eine Reihe von Unfällen des 19. und 20. Jahrhunderts an: Im Jahr 1862 seien bei einem Erdrutsch in England 204 Bergarbeiter gestorben, bei einem Unglück in China im Jahr 1942 mehr als 1500 und auch in Japan und den USA habe es immer wieder Unfälle mit Hunderten Toten gegeben.

Zum Teil hat Erdoğan recht: In der Geschichte des Bergbaus haben sich unter Tage immer wieder schreckliche Unfälle ereignet. Die Zahl der Kumpel, die in den vergangenen Jahrzehnten in den Minen dieser Welt ums Leben gekommen sind, geht in die Zehntausende. Doch die Sicherheitsstandards in den Bergwerken haben sich seit dem 19. Jahrhundert, wie nicht anders zu erwarten, erheblich verbessert. Ganz gleich, ob es um Statik, Elektronik oder Belüftung geht - die technischen Möglichkeiten, eine Mine maximal sicher zu machen, sind vorhanden. Nur werden sie nicht überall gleichermaßen genutzt.

Sicherheit in Kohlegruben
:Rettung aus der Tiefe

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In diesem Punkt steht vor allem die Türkei seit Jahren in der Kritik. Der Bericht eines unabhängigen Thinktanks aus dem Jahr 2010 beschreibt die Minen des Landes als "Todesfallen" (das PDF auf türkisch finden sie hier). Zwischen 1991 und 2008 seien 2554 Arbeiter in türkischen Kohlegruben ums Leben gekommen. Weitere 13 000 seien in der Zeit arbeitsunfähig geworden, heißt es in dem Papier der Economy Policy Research Foundation of Turkey (TEPAV), das in der englischen Ausgabe der Hürriyet zitiert wurde.

Statistiken der Internationale Arbeitsorganisation (ILO) bestätigen die Zahlen. Demnach sterben jedes Jahr etwa 100 Bergleute in türkischen Minen.

Im internationalen Vergleich geschehen in China die meisten Unfälle unter Tage, die USA liegen auf Platz zwei, dann kommt die Türkei. Doch China und die Vereinigten Staaten fördern weit mehr Kohle. Bricht man die Zahl der getöteten Bergleute auf die geförderte Kohlemenge herunter, verschiebt sich die erschreckende Rangliste. Dann steht die Türkei auf dem ersten Platz - mit Abstand. Für das Jahr 2008 heißt es im TEPAV-Bericht: "Während auf eine Million Tonnen Kohle in der Türkei 7,22 Todesfälle kommen, sind es in den Vereinigten Staaten 0,02." Für China wird die Zahl 1,27 angegeben.

"Die Belüftungsanlagen sind oft ungeeignet, das Methangas wird nicht richtig abgesaugt, die Luftzufuhr funktioniert nur mangelhaft. Auch auf angemessene Sicherheitsvorkehrungen wird oft zu wenig Wert gelegt", sagt Hüseyin Ekrem Cünedioğlu, einer der Autoren der TEPAV-Studie gegenüber Süddeutsche.de. Besonders treffe dies auf Minen zu, die von privaten Firmen und Subunternehmern betrieben werden, heißt es in dem Bericht. Dort habe es in den Jahren 2008 bis 2010 doppelt so viele Tote gegeben wie im staatlichen Bergbau. Der Konkurrenzkampf setzt die Firmen unter Druck - für den Profit wird die Sicherheit der Kumpel aufs Spiel gesetzt.

Der Bericht der TEPAV wurde nach einem Minenunglück im Norden der Türkei im Mai 2010 veröffentlicht. 30 Kumpel kamen dabei ums Leben. Und schon damals riefen die Menschen nach der Politik, die den Bergbau stärker reglementieren sollte - mit strengeren Gesetzen, mit der Durchsetzung besserer Arbeitsbedingungen und mit einer genaueren Überwachung der einmal gesetzten Standards.

Die Katastrophe hätte verhindert werden können

"Wenn es ausreichende Sicherheitsvorkehrungen gegeben hätte, wäre es möglich gewesen, die Katastrophe in Soma zu verhindern", sagt Cünedioğlu. Auf seinen Bericht aus dem Jahr 2010 habe er von Seiten der Politik keinerlei Reaktionen erhalten. Zwar sei am 1. Januar 2013 ein neues Gesetz in Kraft getreten, um den Mangel an Ausbildung und Kontrollmechanismen entgegenzutreten. Aber wie bei jedem Gesetz habe es an der Umsetzung gehapert. "Und jetzt erleben wir das größte Grubenunglück in der Geschichte des Landes."

Es ist nicht viel geschehen seit dem letzten großen Minenunglück im Jahr 2010. Bei der Einstellung, die Premier Erdoğan an den Tag legt, dürfte das aber niemanden verwundern.

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Mit dem politischen Hintergrund des Grubenunglücks und der Kritik an Premier Erdoğan hat sich SZ-Korrespondentin Christiane Schlötzer befasst.

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