Grubenunglück in der Türkei:Soma steht jetzt für den Tod

Lesezeit: 3 Min.

Möglicherweise sind noch fast 200 Menschen in der Kohlegrube im Westen der Türkei eingelassen. (Foto: REUTERS)

Wie viele Kumpel sind noch eingeschlossen? Niemand weiß das genau. Mehr als 230 Leichen wurden bislang geborgen. Die türkische Regierung um Ministerpräsident Erdoğan beschreibt die Ereignisse von Soma als schicksalhaftes Unglück. Doch völlig unerwartet kam die Katastrophe in der Kohlegrube nicht.

Von Oliver Klasen

Fast 24 Stunden ist es jetzt her, seit sich in einer Kohlegrube im Westen der Türkei eine Explosion ereignet hat, bei der womöglich bis zu 400 Menschen ums Leben gekommen sind.

Schon die Szenen, die über Tage zu sehen sind, sind grausam: Über dem Bergwerk in der Stadt Soma stehen dichte Rauchwolken. Hunderte Angehörige und Kollegen der verunglückten Kumpel warten vor dem Grubeneingang auf Neuigkeiten. Nur vereinzelt werden Überlebende ans Tageslicht gebracht, die husten und wegen des eingeatmeten Kohlenstaubs nach Luft ringen. Angehörige versuchen, die Decken von den Gesichtern der auf Bahren aus der Grube getragenen Leichen zu ziehen, um die Toten zu identifizieren. Ein Kühlhaus, in dem sonst Lebensmittel gelagert werden, dient als Leichenhalle. Die Feuerwehr versucht, Frischluft in den Schacht zu pumpen, um die restlichen Arbeiter mit Sauerstoff zu versorgen, die zwei Kilometer unter der Erdoberfläche festsitzen.

Zahlreiche Kumpel sind wohl qualvoll erstickt

Was sich dort in der Tiefe abgespielt hat, lässt sich bisher nur lückenhaft rekonstruieren. Am Dienstag, so viel steht bisher fest, hat es einen Defekt in der Elektrik gegeben. Ein Transformator explodiert, Feuer bricht aus und die Stromversorgung kommt zum Erliegen. Das führt dazu, dass die Ventilatoren, die in den Schächten für Frischluft sorgen sollen, nicht mehr arbeiten.

Die Hoffnung, noch Überlebende aus der Tiefe zu bergen, wird von Stunde zu Stunde geringer. Viele Kumpel, so vermutet Verkehrsminister Taner Yıldız, der am Mittwoch den Ort des Unglücks besuchte, sind wohl erstickt.

"Auch wenn die Männer Masken haben sollten, wird eine Rettung schwierig. Die Masken, die wir erhalten haben, reichten für 45 Minuten Frischluft. Aber innerhalb von 45 Minuten kann man nicht die eineinhalb Kilometer nach oben kommen", sagt Sami Kilic, ein Bergmann, der neun Jahre in der Zeche arbeitete und jetzt bei den Rettungsarbeiten hilft, dem Sender CNN-Türk. Aus Sicherheitskreisen vor Ort verlautete, es hätten sich zwei Luftblasen gebildet. Zu der einen hätten die Bergungskräfte Zugang. In der anderen seien die Kumpel aber von jeder Hilfe abgeschnitten.

Mehr als 230 Leichen sind nach Angaben der türkischen Regierung inzwischen aus dem Bergwerk geborgen worden. 363 Kumpel konnten lebend gerettet werden. Wieviele Menschen sich zum Zeitpunkt des Unglücks in der Tiefe aufgehalten haben, steht bisher nicht genau fest. Doch klar ist: Das Unglück von Soma ist das schlimmste Grubenunglück in der Geschichte der Türkei.

Grubenunglück in der Türkei
:Trauern und Warten

Mehr als 200 Tote, Hunderte Verschüttete: Nach dem Grubenunglück in der Türkei trauern Angehörige und Kollegen um die verunglückten Bergleute. Viele haben sich vor dem Eingang der Mine versammelt, um auf Neuigkeiten zu warten.

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan hat eine dreitägige Staatstrauer angeordnet, das Parlament in Ankara legte eine Schweigeminute für die Opfer ein. Die Grubenleitung betont die hohen Sicherheitsstandards, die erst kürzlich überprüft worden seien. Die Regierung, genauso wie die Leitung des Grubenbetreibers Soma Komur Isletmeleri, ist sichtlich bemüht, die Ereignisse in Soma als tragisches Unglück darzustellen.

Proteste gegen den Grubenbetreiber

Doch angesichts der häufigen Unglücke in türkischen Gruben sind die Zweifel groß. Die Oppositionspartei CHP war erst vor wenigen Wochen im Parlament mit dem Versuch gescheitert, Zwischenfälle in der Grube von Soma untersuchen zu lassen: Erdogans Regierungspartei AKP lehnte den Antrag ab. Für den linken Gewerkschaftsbund DISK ist das Unglück von Soma deshalb ein "Massaker", wie der Vorsitzende Kani Beko sagt. In vielen türkischen Gruben seien ganze Ketten von Subunternehmern am Werk, die nicht vernünftig kontrolliert würden. Sicherheitsvorschriften würden außer Acht gelassen:

In einigen größeren Städten sammeln sich bereits erboste Demonstranten. Im Internet kursieren Aufrufe für Proteste vor der Zentrale des Bergwerk-Betreibers in Istanbul.

Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO nahm die Türkei, die EU-Mitglied werden will, im Jahr 2012 in Europa den Spitzenplatz bei tödlichen Arbeitsunfällen ein. Weltweit lag sie auf Platz drei. Allein zwischen 2002 und 2012 kamen in dem Land mehr als 1000 Bergleute bei Grubenunglücken ums Leben.

"Die Katastrophe in Soma ist das jüngste Glied in einer langen Kette schrecklicher Grubenunglücke in der Türkei", sagt Michael Vassiliadi, der Vorsitzende der deutschen Bergbaugewerkschaft IG BCE.

Das bis zur Katastrophe von Soma schlimmste Unglück ereignete sich im Jahr 1992. Damals kamen in der Provinz Zonguldak am Schwarzen Meer nach einer Gasexplosion 263 Arbeiter ums Leben. In derselben Region wurden im Mai 2010 bei einer weiteren Gasexplosion 30 Bergleute getötet.

Regierungschef Erdoğan hatte damals von "Schicksal" gesprochen und davon, dass die Menschen in der Region an solche Unglücke gewöhnt seien. Schon vor vier Jahren wurde er deshalb heftig kritisiert und inzwischen, so scheint es, sind immer weniger Menschen in der Türkei bereit, diese zynische Lesart zu akzeptieren.

(Mit Material der Nachrichtenagenturen)

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